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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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Jahren eine moralische Pflicht für jeden guten Amerikaner war, aber der Kampf gegen Franco in den dreißiger Jahren einen verdächtigen Beigeschmack hatte, weil er hauptsächlich von Kommunisten und anderen Linken geführt worden war. Und warum titulierten dreißig Jahre später linksradikale Amerikaner einen Polizisten, dem ihre Rauchge-wohnheiten nicht gefielen, als fascist pig? Warum sagten sie nicht falangist pig, cagoulard pig, ustasha pig, nazi pig?
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    Hitlers Mein Kampf ist die vollständige Offenlegung eines politischen Programms. Der Nationalsozialismus hatte eine Theorie des Rassismus und des Ariertums, einen präzisen Begriff von degenerierter (»entarteter«) Kunst, eine Philosophie des Willens zur Macht und des »Übermenschen«. Der Nationalsozialismus war entschieden antichristlich und neuheidnisch, so wie Stalins »Diamat« (die offizielle Version des sowjetischen Marxismus) klar materialistisch und atheistisch war. Versteht man unter Totalitarismus ein Regime, das alles individuelle Handeln dem Staat und seiner Ideologie unterordnet, so waren Nationalsozialismus und Stalinismus totalitäre Regime.
    Der italienische Faschismus war zweifellos eine Diktatur, aber er war nicht durchgehend totalitär, nicht wegen seiner Milde, sondern wegen der philosophischen Schwäche seiner Ideologie.
    Entgegen der verbreiteten Meinung hatte der italienische Faschismus keine eigene Philosophie. Der von Mussolini unterzeichnete Artikel »Fascismo« in der Enciclopedia Trecconi war von Giovanni Gentile verfaßt oder im wesentlichen inspiriert worden, aber er reflektierte eine späthegelianische Idee vom »absoluten sittlichen Staat«, die Mussolini nie ganz verwirklicht hat. Mussolini hatte überhaupt keine Philosophie, er hatte nur eine Rhetorik. Er begann als militanter Atheist, aber dann unterzeichnete er das Konkordat mit der Kirche und hieß die Bischöfe willkommen, die die faschistischen Fähnchen segneten. In seinen ersten antiklerikalen Jahren soll er einmal, einer glaubwürdigen Legende zufolge, Gott aufgefordert haben, ihn auf der Stelle niederzustrecken, um seine Existenz zu beweisen. Gott war offensichtlich zerstreut. In späteren Jahren rief Mussolini in seinen Reden ständig den Namen Gottes an und hatte nichts dagegen, wenn er als »Mann der Vorsehung«
    bezeichnet wurde.
    Man kann sagen, daß der italienische Faschismus die erste Rechtsdiktatur war, die ein europäisches Land beherrschte, und daß alle ähnlichen Bewegungen, die später kamen, in Mussolinis 27
    Regime eine Art Archetyp sahen. Der italienische Faschismus war der erste, der sich eine militärische Liturgie, eine Folklore und sogar eine eigene Kleidermode schuf- womit er im Ausland mehr Erfolg als Armani, Benetton oder Versace haben sollte.
    Erst in den dreißiger Jahren erschienen faschistische Bewegungen in England (mit Mosley), in Lettland, Estland, Litauen, Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawi-en, Spanien, Portugal, Norwegen und sogar Südamerika, um von Deutschland gar nicht zu reden. Es war der italienische Faschismus, der viele liberale Politiker in Europa davon überzeugte, daß dieses neue Regime interessante soziale Reformen durchführte, die eine gemäßigt revolutionäre Alternative zur kommunistischen Bedrohung darstellen konnten.

    Dennoch scheint mir die historische Priorität kein ausreichender Grund, um zu erklären, warum gerade der Begriff Faschismus zu einer Sammelbezeichnung oder einem Pars pro toto für verschiedene totalitäre Bewegungen geworden ist. Es hilft nichts zu sagen, der italienische Faschismus habe alle Elemente der späteren Totalitarismen sozusagen »als Quintessenz« in sich enthalten. Im Gegenteil, der italienische Faschismus besaß überhaupt keine Quintessenz, ja nicht einmal eine einzelne Essenz. Er war ein verschwommener Totalitarismus, verschwommen im Sinne von fuzzy. * Er war keine monolithische Ideologie, sondern eher eine Collage aus verschiedenen politischen und philosophischen Ideen, ein Bienenkorb voller Widersprüche. Kann man sich eine totalitäre Bewegung vorstellen, die es fertigbringt, Monarchie und Revolution zu
    vereinigen, Königliche Armee und Mussolinis Privatmiliz, Garantie der kirchlichen Privilegien und eine gewaltverherrli-chende Staatserziehung, totale Kontrolle und freien Markt? Die

    * Neuerdings in der Logik benutzt, um undeutlich konturierte Ensembles zu bezeichnen, könnte der Terminus fuzzy mit »faserig«, »ungenau«, »ausge-franst«
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