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Magermilch

Magermilch

Titel: Magermilch
Autoren: Jutta Mehler
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1

    Fanni trug ganz allein selbst die Schuld daran, dass sie die Leiche am Fuß der Kletterwand entdeckte.
    Warum hatte sie mit dem Pinkeln nicht noch eine Viertelstunde warten können? Daheim in ihrer Toilette hätte kein Toter gelegen.
    Doch statt ein wenig Selbstbeherrschung zu üben, war Fanni in die Zufahrt zu dem kleinen Klettergarten in Deggendorf-Deggenau eingebogen, hatte auf Sand und Schotter geparkt, war ausgestiegen und hatte sich hinter einen Busch gehockt.
    Voyeure musste sie nicht fürchten, denn die Drahtseile, die den Kletterern als Sicherung dienten, hingen vereinsamt an ihren Befestigungen, und auch im Zustieg rührte sich nichts.
    Kein Wunder, dachte Fanni, wer kann schon an einem Werktag während der Arbeitszeit im Klettergarten herumturnen?
    Während sie die Hose zuknöpfte und den Reißverschluss hochzog, schaute sie in die Felswand hinauf. Das Gestein glänzte feucht, weil es den halben Vormittag über geregnet hatte.
    Ein weiterer Grund dafür, dass hier alles wie ausgestorben wirkte. Schmierige Drahtseile, glatte Tritte, rutschige Griffe, wirklich kein guter Tag für eine Klettersteigtour.
    Sie trat ein paar Schritte zurück und ließ den Blick über die seilversicherten Routen wandern. Der luftigere der beiden Anstiege bestand aus zwei an den Felsen geschmiegten Leitern, die direkt zum Gipfelpunkt führten. Der einfachere, weniger ausgesetzte Kletterpfad schlängelte sich an einem Felsband entlang und weiter durch eine Rinne bergwärts. Beide Routen waren durch einen Quergang über ein fast senkrechtes Felswändchen miteinander verbunden.
    Bis Ende der Achtziger hatte es in dem ehemaligen Steinbruch nur ein paar Haken gegeben, die entlang von einigen Kletterführen als einzelne Sicherungspunkte dienten und gleichzeitig den Aufstieg markierten. Die beiden gängigsten Trassen waren als »Kante« und »Platte« geläufig.
    In jungen Jahren hatte Fanni die »Kante« ein paarmal durchstiegen. Als Seilzweite hinter Hans Rot – damals, als er noch keinen Bierbauch hatte und Kegelschieben noch nicht als Sport bezeichnete. An die »Platte« hatte sie sich nie gewagt, dazu fehlte es ihr an Talent.
    Fanni seufzte. Für so vieles fehlte es ihr an Talent.
    Sie schaute ein letztes Mal hinauf, wollte soeben zu ihrem Wagen zurückgehen, da entdeckte sie an der Drahtseilversicherung genau in der Mitte des Klettersteigquergangs etwas, das dort störte.
    Fanni fokussierte den Blick darauf, und zögernd, wie ein digitales Bild, das sich langsam auf einem Monitor aufbaut, nahm der Schemen Form an: Drei Karabiner hingen an dem gespannten Seil. Von den äußeren beiden führten Seilstücke zu einem wie eine Acht geformten Stahlteil, das einen knappen Meter weiter unten in der Wand pendelte. Am mittleren Karabiner flatterte eine kurze Bandschlinge lose im Wind.
    Fanni starrte hinauf und weigerte sich zu identifizieren, was sie seit einigen Sekunden deutlich zu erkennen imstande war.
    Egal, wie lange du noch hinglotzt, das ist und bleibt ein Klettersteigset!
    Ja, dachte Fanni. Ein Klettersteigset plus einem Karabiner samt extra Bandschlinge. Was fehlt, ist der Klettergurt, der dazugehört.
    Und der Kletterer, der in den Gurt hineingehört!
    Fanni schluckte und wandte sich ab. Ich sollte in den Wagen steigen und nach Hause fahren, dachte sie. Da oben hängen ein paar Karabiner und ein paar Schlingen, na und. Sind wohl entsorgt worden in der Wand.
    Ziemlicher Aufwand, um ein Klettersteigset zu entsorgen!
    Fanni kniff die Augen zusammen, starrte wieder hinauf und weigerte sich noch immer, den einzig logischen Schluss zu ziehen.
    Egal, was du dir gerne zusammenreimen würdest, das Set hängt da, weil es sich aus der Schlaufe eines Klettergurts gelöst hat! Die Schlaufe muss gerissen sein!
    »Unmöglich«, flüsterte Fanni, »nichts ist so gut vernäht, so fachgerecht verflochten wie die Anseilschlaufe, durch die das Set geschlungen wird.«
    Gut, zugegeben, überlegte sie, hier ist jemand abgestürzt. Gestern, vorgestern, vergangene Woche. Der Unglücksrabe liegt längst im Krankenhaus, und ich fahre jetzt endlich nach Hause.
    Entschieden machte sie ein paar Schritte auf den Wagen zu.
    Wenn im Deggenauer Klettergarten einer abstürzt, dann steht das anderntags auf der Titelseite der Passauer Neuen Presse!
    Fanni blieb stehen.
    Du wirst dich ein wenig umsehen müssen!
    Fanni starrte den Erdboden zu ihren Füßen an.
    Rings um den Zustieg!
    Widerstrebend machte Fanni ein paar Schritte auf den schmalen, noch recht
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