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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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Industrien in die Krise (und das auf dem ganzen Globus), nämlich die des Luftverkehrs, der Unterhaltung und des Touris-mus, der Medien selbst (die Werbeeinnahmen verlieren) und allgemein die gesamte Industrie des Überflüssigen – das Knochengerüst des Systems –, vom Baumarkt bis zum Automo-bil. Bei der Nachricht vom Ausbruch eines Krieges hat die Börse zwar einen Sprung nach oben getan, aber einen Monat später ist sie bei den ersten Anzeichen eines möglichen Friedens ebenso hoch gesprungen. Das war kein »Zynismus« im ersten Fall und keine tugendhaftpazifistische Regung im zweiten. Die Börse registriert die Schwankungen im Spiel der Mächte.
    Während des Krieges befinden sich einige ökonomische Mächte in Konkurrenz zueinander, und die Logik ihres Konflikts überlagert die Logik der nationalen Mächte. Wenn die Industrien des staatlichen Konsums (wie die Rüstungsindustrie) einen Spannungszustand benötigen, brauchen die des individuellen Konsums einen Glücks- und Friedenszustand. Der Konflikt wird in ökonomischen Termini ausgetragen.
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    5. Aus all diesen und anderen Gründen ähnelt der Krieg heute nicht mehr, wie früher, einem »seriellen« intelligenten System, sondern einem »parallelen« intelligenten System. Ein serielles intelligentes System, wie es zum Beispiel für die Konstruktion von Maschinen gebraucht wird, die übersetzen oder aus einer gegebenen Reihe von Informationsdaten Schlüsse ziehen
    können, wird vom Programmierer so instruiert, daß es auf der Basis einer endlichen Zahl von Regeln sukzessive Entscheidungen treffen kann, deren jede von einer Einschätzung der vorangegangenen abhängt, wobei sie einer Baumstruktur folgt, die sich aus einer Reihe binärer Disjunktionen zusammensetzt.
    Die alte Kriegsstrategie ging folgendermaßen vor: Hat der Feind seine Truppen nach Osten bewegt, muß ich voraussehen, daß er anschließend nach Süden vorrücken will. In diesem Fall werde ich, derselben Logik folgend, meine Truppen in südwestlicher Richtung bewegen, um ihm überraschend den Weg abzuschnei-den. Die Regeln des Feindes waren auch die eigenen, und jeder konnte abwechselnd eine Entscheidung treffen, wie in einer Schachpartie.
    Ein »paralleles« System dagegen überläßt den einzelnen Elementen oder Zellen eines Netzes die Entscheidung, sich in einer bestimmten Konfiguration anzuordnen, und zwar gemäß einer Disposition von Gewichten, die der Operateur nicht vorher beschließen oder voraussehen kann, weil das Netz Regeln findet, die es nicht vorher bekommen hat. Es verändert sich selbständig, um die Lösung zu finden, und dabei macht es keinen Unterschied zwischen Regeln und Daten. Zwar kann man ein solches System (man nennt es »neuverknüpfend« oder »wie ein Nervengewebe organisiert«) dadurch kontrollieren, daß man die gegebene Antwort mit der erwarteten vergleicht und die Gewichte durch sukzessive Experimente neu ordnet. Das aber erfordert 1. daß der Operateur Zeit hat, 2. daß nicht zwei Operateure konkurrieren und die Gewichte in widersprüchlicher Weise verteilen und 3. daß die einzelnen Zellen des Netzes als 16
    Zellen »denken« und nicht wie die Operateure, also keine Entscheidungen treffen, die sich aus Schlüssen über das Verhalten der Operateure ableiten, und daß sie vor allem keine Interessen haben, die der Logik des Netzes selbst fremd sind.
    Wogegen in einem System der parzellierten Macht jede Zelle gemäß ihren eigenen Interessen reagiert, die nicht die des Operateurs sind und nichts mit den autodynamischen Tendenzen des Netzes zu tun haben. Daher kann man sagen, daß der Krieg, wenn er – sei es auch nur als Metapher – ein neuverknüpfendes System ist, sich unabhängig vom Willen der beiden Kontrahenten entwickelt und reguliert. Es ist interessant zu sehen, wie der Physiker Arno Penzias in seiner populärwissenschaftlichen Erklärung der Funktionsweise eines Nervengewebes * eine Kriegsmetapher benutzt: »Man wußte, daß die einzelnen
    Neuronen elektrisch aktiv wurden (sie ›schossen‹ ), wenn sie durch ihre fein verzweigten Input-Kabel (die sogenannten Dendriten) stimuliert wurden. Im Moment des ›Schießens‹
    sendet ein Neuron elektrische Signale längs einer Reihe von Output-Kabeln (sogenannten Neuriten) aus. [ … ] Da das Schießen ›jedes Neurons von der Aktivität vieler anderer abhängt, gibt es keine einfache Methode, zu berechnen, was wann passieren müßte. [ … ] Je nach der besonderen Disposition der Synapsenverbindungen
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