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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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erschienen. Um ihn zu rechtfertigen, haben Freunde und Feinde gesagt, der arme Mann habe nur seine Pflicht getan, da er nichts anderes hätte sagen können. Das ist richtig. Der Papst hat (aus seiner Sicht der Wahrheit) die intellektuelle Funktion ausgeübt und gesagt, daß man nicht Krieg führen darf. Der Papst muß sagen, daß wir, wenn wir das Evangelium ernstlich praktizieren wollen, auch die andere Backe hinhalten müssen. Aber was mache ich, wenn mich einer umbringen will? »Laß dir was einfallen«, müßte der Papst sagen, »das ist deine Sache« – und die Kasui-stik über legitime Verteidigung oder Notwehr würde dann nur dazu dienen, die menschliche Schwäche zu kompensieren, derentwegen niemand zur heroischen Tugendausübung ver-pflichtet sein kann. Diese Position ist derart unangreifbar, daß der Papst, wenn und sobald er noch etwas anderes hinzufügt, was als praktischer Hinweis verstanden werden könnte, seine intellektuelle Funktion aufgibt und politische Entscheidungen trifft (und die sind dann seine Sache).
    Wenn es sich so verhält, muß man sagen, daß die intellektuelle Gemeinschaft in den letzten fünfundvierzig Jahren nicht über das Problem des Krieges geschwiegen hat. Sie hat sogar mit solch missionarischem Eifer darüber gesprochen, daß sie die Art, wie die Welt den Krieg sieht, radikal verändert hat. Nie haben die Menschen so sehr wie diesmal das ganze Grauen und die Zwiespältigkeit des Geschehens empfunden. Abgesehen von wenigen Rasenden hatte niemand Schwarzweißvorstellungen.
    Daß der Krieg trotzdem ausgebrochen ist, zeigt, daß die Argumentation der Intellektuellen noch keinen vollen Erfolg gehabt hat, nicht überzeugend genug war, nicht genügend historischen Spielraum hatte. Aber das ist nur ein Mißgeschick. Die Welt sieht den Krieg heute mit anderen Augen als zu Beginn des Jahrhunderts, und wenn heute jemand von der Schönheit des Krieges als einziger Hygiene der Welt reden würde, ginge er 11
    nicht in die Geschichte der Literatur ein, sondern in die der Psychiatrie. Mit dem Krieg ist das gleiche passiert wie mit dem Ehrendelikt oder dem Gesetz der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem: nicht, daß keiner sie mehr praktiziert, aber die Gemeinschaft beurteilt sie als ein Übel, während sie früher als etwas Gutes galten.
    Dies alles sind freilich noch moralische und emotionale Reaktionen (und manchmal kann selbst die Moral bestimmte
    Ausnahmen vom Tötungsverbot akzeptieren, so wie das
    kollektive Empfinden Greuel und Opfer hinnehmen kann, wenn sie ein höheres Gut sichern). Es gibt jedoch eine radikalere Art, den Krieg in rein formalen Begriffen zu denken, in solchen der inneren Kohärenz. Nämlich indem man über die Bedingungen seiner Möglichkeit nachdenkt, um zu dem Schluß zu gelangen, daß der Krieg deswegen nicht geführt werden darf, weil die Existenz einer Gesellschaft der Instant-Information und der schnellen Transporte, der ständigen interkontinentalen Migrationen, vereint mit dem Wesen der neuen Waffentechnologien, den Krieg unmöglich und widersinnig gemacht hat. Der Krieg steht heutzutage im Widerspruch zu den innersten Gründen, aus denen er geführt worden ist.
    Was war jahrhundertelang das Ziel eines Krieges gewesen?
    Man führte Krieg, um den Gegner so zu besiegen, daß man aus seiner Niederlage einen Gewinn ziehen konnte und daß unsere Intentionen – in einer bestimmten Weise zu handeln, um ein bestimmtes Resultat zu erzielen – taktisch oder strategisch so verwirklicht wurden, daß sie die Intentionen des Gegners durchkreuzten. Für diese Ziele mußte man alle verfügbaren Kräfte ins Feld führen können. Außerdem wurde das Spiel nur zwischen uns und dem Gegner gespielt. Die Neutralität der anderen, die Tatsache, daß unser Krieg sie nicht weiter störte (ja ihnen in einem gewissen Maß erlaubte, daraus Profit zu ziehen), war eine notwendige Bedingung unserer Handlungsfreiheit.
    Auch der »absolute Krieg« von Clausewitz entging diesen 12
    Einschränkungen nicht.
    Erst in unserem Jahrhundert ist der Begriff des »Weltkriegs«
    entstanden – als Bezeichnung eines so weltumspannenden Krieges, daß er auch geschichtslose Gesellschaften wie die polynesischen Stämme in Mitleidenschaft ziehen könnte. Mit der Entdeckung der Atomkraft, der Erfindung des Fernsehens, der Ausbreitung des Luftverkehrs und der Entstehung verschiedener Formen von multinationalem Kapitalismus haben sich nun einige Bedingungen für die Unmöglichkeit des Krieges
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