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Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen
Autoren: Thommie Bayer
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Umso erstaunter war er gewesen, als er später von der
Hochzeit mit Wagner erfahren hatte.
    Am Büfett stand Angelas Tochter, eine junge Frau mit ebenso
flachsblondem Haar und aufrechter Haltung wie ihre Mutter und Großmutter. Sie
reichte den Gästen Besteck, Servietten und Getränke. Siggi griff so ungeschickt
nach ihrem Besteck, dass es ihr gleich wieder aus der Hand fiel, Michael hob es
auf, Angelas Tochter reichte ihr ein neues, und Michael sah Siggis gerötete
Wangen und erkannte, dass sie von der Tochter betört und deshalb unsicher und
verwirrt war. Hier konnte der Ursprung ihrer Dankbarkeit liegen. Emmi hatte ihr
vielleicht geholfen, zu akzeptieren, dass sie sich in Frauen verliebte. Michael
empfand Stolz auf Emmi in diesem Moment. Wer weiß, wie viele dankbare Menschen
jetzt hier waren, denen Emmi in einem wichtigen Augenblick ihres Lebens den
richtigen Rat gegeben hatte.
    Michael warf einen zweiten Blick auf die Tochter und sah, was Siggi
so berührt haben mochte: Die Frau hatte diesen Perlmuttschimmer der Jugend an
sich, der bald vergehen würde, aber jetzt noch alles an ihr weich und selbstlos
erscheinen ließ. Sie wirkte wie jemand, der noch nicht allzu viele
Entscheidungen gefällt und Menschen verletzt haben konnte.
    Er nahm sich Kartoffeln, Bohnen, Salat und etwas von der Sauce (den
Braten ließ er liegen) und sah sich um nach den anderen, aber sie saßen
verstreut, und der Platz war zu knapp – neben Thomas und Bernd war nichts mehr
frei, also musste er, da Wagner sich noch immer angeregt mit Siggi unterhielt,
sein Glas Wasser auf der Fensterbank abstellen und im Stehen essen.
    ~
    Ãœber Emmi sprach nach einer Stunde niemand mehr. Wie jede
Trauergesellschaft hatte auch diese nach dem bedrückenden Teil der
Veranstaltung zu einer nervösen Hochstimmung gefunden, in der Anekdoten, Witze
und Lebensgeschichten erzählt wurden, und die Nachtigallen waren nach einigen
Rochaden schließlich doch am selben Tisch gelandet, wo sich Bernd inzwischen
angeregt mit der Tochter unterhielt, was Angela, die ebenfalls mit am Tisch
saß, missfiel, denn die beiden flirteten miteinander. Bernd flirtete immer. Ein
weibliches Wesen ohne Bart oder Missbildungen war ihm von jeher als Beute
erschienen, die er mit aller ihm zu Gebote stehenden Nonchalance umschlich.
Angela versuchte immer wieder vergeblich, ihn und auch ihre Tochter an sein
Alter zu erinnern, indem sie ihn auf Ereignisse von früher ansprach, aber es
nutzte nichts – die Tochter zappelte schon in Bernds Fängen, der sich für ihr
Medizinstudium, ihren Musikgeschmack, ihre Urlaubsreisen und Karrierepläne
interessierte, als gäbe es nichts Wichtigeres für ihn als die Lebensumstände
und Weltsicht dieser jungen Frau.
    Thomas leerte sich den Wein in etwa derselben Menge in den Mund, wie
ihm der Schweiß aus den Poren trat. Es war gespenstisch anzusehen. Michael
hatte ihn vor einigen Minuten am Büfett beobachtet, wie er sich gleich zwei
Gläser einschenkte, eines leerte, wieder auffüllte und dann beide mit sich zum
Tisch nahm. Auch dort hielt ihr Inhalt nicht lang vor.
    Inzwischen redete er auf ihren alten Mathematiklehrer ein, der sich
von Thomas’ Erwähnung seiner Arbeit als Immobilienmakler hatte beeindrucken
lassen. Der Lehrer wollte ins Altersheim ziehen und sein Haus verkaufen, und
Thomas erging sich in Spekulationen über den Preis und die Möglichkeiten, »die
Braut vorher aufzuhübschen«, wie er es nannte.
    Wagner hatte in Siggi eine Wesensverwandte gefunden – ihre
gemeinsame Begeisterung für Gärten lieferte ihnen Gesprächsstoff, der sie alles
andere ignorieren ließ. Bis auf den Flirt zwischen der Tochter und Bernd, den
Siggi mit ähnlich verdunkelten Blicken wie Angela unauffällig, aber nicht für
Michael, verfolgte.
    Jetzt sitzen wir schon mal zusammen und reden doch nicht
miteinander, dachte Michael, aber es war ihm recht. Sympathie empfand er nicht
mehr für die ehemaligen Gefährten, wie er eigentlich schon seit Jahren für die
wenigsten Menschen noch Sympathie empfand.
    Dennoch, dieses eine Lied an Emmis Grab erinnerte ihn an das, was
sie verbunden hatte – es war eine verschenkte Gelegenheit. Sie hätten jetzt für
einen Moment, einen Nachmittag lang, an diesen glücklichen Punkt ihres Lebens
anknüpfen, sich ihrer Freundschaft erinnern und Emmis Rolle bei deren Entstehen
würdigen können. Stattdessen spulte
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