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Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen
Autoren: Thommie Bayer
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balancierend, um sich nicht durch das Knirschen seiner Schritte zu
verraten. Er näherte sich Erin bis auf etwa fünfzehn Meter – weiter wollte er
nicht, um ihr Alleinsein mit Emmi nicht zu stören. Sie stand da, eine schwarze
Silhouette, die Hände vor dem Schoß ineinandergelegt, den Kopf gesenkt, und
sang die letzten Zeilen: But since it falls unto my lot that
I should rise and you should not; I gently rise and softly call, goodnight and
joy be with you all .
    Er wäre gern noch geblieben, aber er wandte sich ab und ging zurück,
wie er gekommen war, um nicht als Lauscher entdeckt zu werden. Schon wieder
spürte er Tränen in den Augen, aber diesmal weinte er nicht um Emmi Buchleitner – es war Erins Stimme, das Lied, die Geste des Respekts und der Liebe, die hier
einem Menschen nachgerufen wurde. Und es war die Stille auf dem menschenleeren
Friedhof in der schwülen Nachmittagshitze. Und vielleicht auch die Tatsache,
dass er so unverhofft mit Erin zusammengetroffen war.
    Â»Hey«, rief sie hinter ihm, und jetzt hörte er auch ihre Schritte.
Er blieb stehen und drehte sich um. Immerhin war er schon fast wieder bei der
Kapelle angelangt, sie musste nichts von seinem Anschleichen mitbekommen haben.
    Â»Das war ein Lieblingslied von ihr«, sagte Erin, »sie hat es mir
beigebracht, obwohl ich Irin bin und es eigentlich kennen musste.«
    Â»Wir haben das auch gesungen«, sagte Michael, »meine Freunde und
ich. Vorhin bei der Beerdigung.«
    Â»Das gleiche Lied?«
    Â»Ja. Vierstimmig. A cappella. Sie hat es auch uns beigebracht. Sie
hat uns genauso zu Musikern gemacht wie dich ein paar Jahre später. Nur dass
wir keine geblieben sind.«
    Â»Du hättest mit mir zusammen singen können«, sagte sie.
    Â»Da hätte ich geheult. Das hätte nicht gut geklungen.«
    Â»Ach komm«, sagte sie und sah ihn zweifelnd an. Aber weil sie in
seinem Gesicht keine Ironie fand, gab sie ihm einen kleinen Boxhieb an die
Schulter. »Rubbish.«
    ~
    Emmi hatte ihn damals angerufen, ob er mit ihr eine
Sängerin anhören wolle, die in München im MUH auftreten
sollte. Es werde ihm gefallen, sagte sie, und ihr wäre lieb, sie würden
einander kennenlernen. Die Sängerin sei eine Schülerin, die jetzt bald nach
Irland zurückkehren werde, und wenn er sie gehört habe, wisse er, warum ihr das
so wichtig sei.
    Er war damals fast fertig mit dem Studium, die Examensarbeit in
Anglistik hatte er schon abgeliefert, für Romanistik musste er noch arbeiten.
Die Nachtigallen hatten sich aufgelöst, nachdem Wagner ihnen immer öfter mit
der Frage »Wo stehen wir eigentlich?« auf die Nerven gegangen war. Anfangs gab
es noch ironische Antworten wie: »Schwabing, Giselastraße«, aber irgendwann
waren sie diese immer penetranter werdenden Forderungen, man dürfe kein
bourgoises l’art pour l’art machen, sondern müsse politisch relevant und
parteilich sein, so leid geworden, dass Wagner damit nur noch Müdigkeit und
Ärger auslöste. Er war dem Verband Sozialistischer Kulturschaffender beigetreten
und akzeptierte nur noch Eisler, Weill, Theodorakis und Jara als Komponisten
und Tucholsky, Brecht, Mehring und Neruda als Texter. Schließlich hatte sein
ständiges Nörgeln und Dozieren nur eine einzige Wirkung: Sie schmissen in einem
sehr kurzen und sehr lauten Streit alles hin und verloren einander zügig aus
den Augen.
    Erst nach dem Ende des Quartetts wurde klar, dass es schon vorher
nicht mehr existiert hatte – der Körper des Ganzen war nur noch von seinen
Kleidern zusammengehalten worden, die Nachtigallen hatten sich von einem Tag
auf den anderen in Luft aufgelöst. Ohne Reminiszenzen, ohne Nachwehen, ohne den
Versuch, sie zu reanimieren.
    Das Musikalische Unterholz, wie der volle Name des Folkclubs
lautete, lag in der Hackenstraße. Es war ein Mittwoch und nicht sehr viel los,
auf dem Programmzettel standen für diesen Tag lauter Namen, die Michael nichts
sagten: Peter Finger, Holger Paetz, Erin Conally und John Vaughan.
    Die Szene, in der er sich bewegt hatte, bot wenig Überschneidungen
mit der Folkszene und den Liedermachern – das, was die Nachtigallen gesungen
hatten, war reine Unterhaltung gewesen, Comedian Harmonists, alte Popsongs und
Schlager, eben alles, was a cappella gut klang – ihre Auftritte waren kurz und
vergnüglich, davor und danach spielten Bands zum Tanzen. Mit
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