Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Roth, Philip

Titel: Roth, Philip
Autoren: Nemesis
Vom Netzwerk:
Philip Roth
     
Nemesis
     
    Aus dem Amerikanischen Dirk van Gunsteren
     
     
1  Äquatorial-Newark
     
    Den ersten Poliofall in jenem Sommer gab es Anfang Juni, kurz nach dem Memorial Day, in einem armen italienischen Viertel auf der anderen Seite der Stadt. In unserem jüdischen Viertel Weequahic im Südwesten von Newark hörten wir nichts davon, ebensowenig wie von dem nächsten Dutzend Fälle, die in praktisch allen Vierteln außer unserem auftraten. Erst nach dem 4. Juli, als es bereits vierzig waren, erschien auf der Titelseite der Abendzeitung ein Artikel mit der Überschrift »Gesundheitsamt warnt Eltern vor Polio«, in dem Dr. William Kitteil, der Leiter des Gesundheitsamtes, Eltern aufforderte, ein Auge auf ihre Kinder zu haben und unverzüglich einen Arzt aufzusuchen, wenn ein Kind Symptome wie Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Übelkeit, Nackenstarre, Gelenkschmerzen oder Fieber zeigte. Er räumte zwar ein, dass vierzig Fälle so früh im Sommer mehr als doppelt so viel seien wie sonst, betonte jedoch, angesichts einer Einwohnerzahl von 429000 könne man keineswegs von einer Poliomyelitis-Epidemie sprechen. In diesem wie in jedem anderen Sommer gelte es, achtsam zu sein und angemessene hygienische Vorbeugungsmaßnahmen zu treffen, doch bestehe noch kein Grund zu einer »durchaus verständlichen« Unruhe wie vor achtundzwanzig Jahren. Damals war es zu der größten bekannten Epidemie dieser Krankheit gekommen: Bei der Poliowelle, die 1916 durch den Nordosten der Vereinigten Staaten gegangen war, hatte es über 27000 Fälle und 6000 Tote gegeben, in Newark allein 1360 Fälle und 363 Tote.
    Selbst in einem Jahr mit einer durchschnittlichen Anzahl von Infektionen, in dem das Risiko einer Ansteckung weit kleiner war als 1916, bereitete eine Krankheit, die bewirken konnte, dass Kinder gelähmt und ihr Leben lang behindert blieben oder nicht imstande waren, außerhalb eines als »Eiserne Lunge« bekannten Metallapparats zu atmen, eine Krankheit, die manchmal durch Lähmung der Atemmuskulatur unausweichlich zum Tod führte, den Eltern in unserem Viertel täglich erhebliche Sorgen. Auch den Kindern, die den Sommer über schulfrei hatten und den ganzen Tag bis in die lang anhaltende Dämmerung hinein draußen spielen konnten, verdarb sie die Ferienstimmung. Die Angst vor den schlimmen Folgen einer Ansteckung mit Polio wurde zusätzlich verstärkt durch die Tatsache, dass es keine wirksame Behandlung gab und ein Impfstoff, der zuverlässigen Schutz geboten hätte, noch nicht gefunden war. Polio - oder Kinderlähmung, wie die Krankheit genannt wurde, als man dachte, sie befalle in erster Linie Kleinkinder - konnte aus heiterem Himmel jeden treffen. Obwohl hauptsächlich Kinder unter sechzehn darunter litten, konnten sich auch Erwachsene infizieren, wie zum Beispiel der Präsident der Vereinigten Staaten.
    Franklin Delano Roosevelt, das berühmteste Polio-Opfer, hatte sich die Krankheit als kräftiger, gesunder Mann von neununddreißig Jahren zugezogen. Er konnte ohne fremde Hilfe nicht gehen, und selbst dann brauchte er schwere Beinschienen aus Stahl und Leder, die von der Hüfte bis zu den Füßen reichten. Die von ihm ins Leben gerufene Hilfsorganisation »March of Dimes«, die »Pfennigparade«, sammelte Geld für die Forschung und die Unterstützung betroffener Familien; obgleich in einigen Fällen eine teilweise oder sogar vollständige Genesung möglich war, erfolgte sie meist erst nach monate- oder jahrelangen teuren Krankenhausaufenthalten mit Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen. Einmal im Jahr, während der Aktionswoche, spendeten Amerikas Kinder in den Schulen ihr Kleingeld für den Kampf gegen diese Krankheit, sie steckten die Münzen in die Sammelbüchsen, die von den Platzanweiserinnen in den Kinos durch die Reihen geschickt wurden, und in den Büros, Läden und Schulkorridoren im ganzen Land hingen Plakate, die verkündeten: »Auch du kannst helfen!« und »Hilf, Kinderlähmung zu bekämpfen!« - Plakate mit dem Bild eines niedlichen kleinen Mädchens mit Beinschienen, das schüchtern am Daumen lutschte, oder eines hübschen, tapferen, heldenhaft lächelnden Jungen im Rollstuhl -, und die Gefahr, diese unheilbare Krankheit zu bekommen, in den Augen der gesunden Kinder nur um so realer und beängstigender erscheinen ließen.
    Newark lag nicht weit über dem Meeresspiegel, und die Sommer waren schwül. Weil die Stadt teilweise von ausgedehntem, sumpfigem Marschland umgeben war - einer der Hauptgründe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher