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Viele Mütter heißen Anita

Viele Mütter heißen Anita

Titel: Viele Mütter heißen Anita
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Granitfelsen steht wie ein Sieg des Lebens über den flammenden Steinfluß der Vernichtung.
    Auf einem Hügel steht die kleine Kirche, und um sie herum leuchten die Kreuze des Friedhofes. Ein kleines Gittertor schließt ihn gegen die Straße ab … umrandet von einer hohen Hecke, ist er wie eine Insel inmitten der Glut des Sommers, den Stürmen des Herbstes und den Eiswinden des Winters, der das Gestein der Felsen fast sprengt.
    Vor einem der niedrigen Kreuze steht eine alte Bank, zusammengezimmert aus alten Latten und sonnengebleichten Stämmen, und wer ein gutes Auge hat, erkennt in ihr die Bank, die draußen vor der Tür der Torricos stand und auf der einst Anita saß … zweiundvierzig Jahre lang … und herschaute auf die Wege, über die ihr Mann und ihre Söhne nach Hause kamen. Jetzt ist sie einsam geworden, und sie steht neben dem Kreuz, auf dem nur ein Name steht, als hätte sie mitwandern müssen an diesen stillen Ort, der noch einsamer ist als das Haus in den Bergen. Auf dieser Bank saßen einmal Juan und ein großer, starker Mann, ein Riese fast, und sahen still auf das Kreuz zu ihren Füßen.
    »Sie haben noch zehn Jahre Zeit«, sagte der große Mann und ergriff Juans Hand. »Nutzen Sie sie aus, Juan! Werden Sie in diesen Jahren wirklich der große Künstler, auf den Spanien hofft – lassen Sie das Opfer Ihrer Mutter nicht umsonst gewesen sein. Es wird ein schwerer Weg sein, man wird Sie anfeinden, verlachen, angreifen, Versuchungen werden über Sie hereinstürzen, die Schönheit des Lebens wird sich Ihnen auftun und die Sucht, es zu genießen. Sie dürfen das alles nicht kennen, Juan … Sie müssen arbeiten, nichts als arbeiten, um das zu sein, als was Ihre Mutter Sie sah, als sie sich bei mir auf die weiße Bahre legte. Sie haben eine Frau, Sie werden ein Kind haben … das ist genug für Ihr Leben!« Der große Mann sah in den Himmel, der fahlblau über ihnen hing, tief, als könne man ihn greifen, denn der Himmel ist niedrig im Lande Castilla. »Zehn Jahre sind ein Augenblick«, sagte er leise. »Zehn Jahre sind schneller gelebt als oft zehn Gedanken gedacht. Ergreifen Sie jeden Tag, Juan, geizen Sie mit jeder Sekunde … es kommt nie wieder, was Sie verloren haben, und Sie müssen über sich hinauswachsen, um das zu sein, was Sie werden können! Es wird in zehn Jahren keinen Menschen mehr geben, der ein Herz für Sie opfert …«
    »Ich weiß es, Herr Professor«, sagte Juan leise.
    »Und auch ich habe keine Macht, Ihnen dann nochmals das Leben zu geben. 1963 wird Ihr großes, letztes Jahr sein, Juan. Es ist schrecklich, es Ihnen zu sagen … aber es wird in zehn Jahren noch keinen Arzt geben, der Ihnen ein Geschwür aus dem Herzmuskel schneidet. Aber zehn Jahre können auch viel sein, wenn man versteht, das Leben mit jeder Minute zur Vollendung zu bringen. Das ist der letzte Wunsch Ihrer Mutter: Juan soll glücklich werden und ein großer Künstler! Werden Sie es, Juan …«
    »Ich verspreche es Ihnen, Herr Professor.«
    So saßen sie auf der alten Bank und eine Stunde der zehn Jahre ging vorbei in Gedanken, die stumm blieben. Die Stille um sie herum war wohltuend und vollkommen. Das Dorf im Tal schien zu träumen, und in den bunten Fenstern der Kirche flimmerte die Sonne des neuen Frühlings, der zaghaft über die Berge kam.
    »Wann fahren Sie wieder nach Madrid?« fragte Moratalla in diese Stille hinein.
    Juan zuckte zusammen.
    »Übermorgen.« Er schaute Moratalla groß an. »Fahren Sie nicht mit?«
    »Nein, ich bleibe noch eine Woche. Ich habe mir Urlaub genommen.« Er spielte mit den Schuhspitzen im lockeren Boden. »Wenn es euch Torricos recht ist, wohne ich bei euch.«
    »Aber ja, Herr Professor, Pedro wird sich freuen …«
    »Ich habe vergessen, Ihnen etwas zu sagen, Juan«, sagte er stockend. »Damals, nach der Operation, als ich allein war in meinem Zimmer, damals wußte ich, daß Ihre Mutter …«
    Juan hob die Hand und legte sie Moratalla auf den Arm.
    »Bitte, sagen Sie es nicht.« Seine Stimme war belegt. »Lassen Sie mir für diese zehn Jahre die Kraft, die ich habe, wenn ich an Mutter denke. Wir wollen alles vergessen, Herr Professor – nur nicht die Stunde, in der sie ihr Herz für mich gab. Und wenn sie alle sagen, daß so etwas jede Mutter tut, für mich ist sie wie eine Heilige.«
    Die Sonne war warm, als der Mittag kam, und die Blumen schüttelten im Wind den Tau ab, den die kalte Nacht brachte.
    Im Dorf spie der Brunnen, und die Bauern lachten. Die Kuppe des Rebollero
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