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Verzwickt chaotisch

Verzwickt chaotisch

Titel: Verzwickt chaotisch
Autoren: Bettina Belitz
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Parkour über die Burgruinen.
    Doch einen Sprung auf die dritte Mauer würde niemand schaffen. Nicht einmal David. Und erst recht kein betrunkener Schutzengel, selbst wenn er manchmal fliegen konnte.
    »Just what I’m going through they cannot understand«, sang Leander leise und erstaunlich klar, bevor er in die Knie ging und mit pendelnden Armen Schwung holte. Blitzschnell wuchtete ich meine Hände nach vorne, stemmte meine Fußspitzen fest in das Gemäuer, um mich zu stabilisieren, und packte Leanders Knöchel.
    Wenn wir jetzt abstürzten und uns den Hals brachen, taten wir es wenigstens zusammen.

Absturzgefährdet
    Die nächsten Sekunden vergingen so langsam, dass ich das Gefühl hatte, mir alles in Zeitlupe ansehen und gleichzeitig ausmalen zu können, was für Folgen es haben würde: Leanders Füße, die ins Straucheln gerieten und abrutschten, als er sich zu mir umdrehte. Wie er zur Seite kippte und mich mit sich riss, weil ich immer noch seine Knöchel umklammerte. Unsere gestreckten Arme, die einen Zweig festhielten, der aus der Mauer ragte, in der Hoffnung, er könne uns vor dem Absturz bewahren. Der trockene Regen aus Blättern und Zweigen, der sich über uns ergoss, als der Ast brach. Und dann das Fallen … so lange …
    Ich dachte an Mama und Papa, an den kleinen Sarg, den Papa für mich nun bestellen musste, und überlegte mir, wie Seppo wohl reagieren würde, oh, und erst Serdan, Sofie, Billy. Und trotzdem war ich froh, dass wir auf der Seite zum Wald hin fielen, denn hier würde der Aufprall nicht ganz so scheußlich wehtun wie auf dem Steinboden des Schwimmbadgeländes, bevor wir ohnmächtig wurden und starben.
    Dann war die Zeitlupe mit einem Mal vorbei und der Wald raste auf uns zu. Jetzt, dachte ich. Jetzt geschieht es. Doch kurz vor dem Aufprall flutete ein heißer Schauer über meinen Rücken und Leander schlang die Arme um meinen Leib und riss mich mit einem wütenden Aufschrei um meine eigene Achse. Ich landete weich – so weich, dass ich mir nicht einmal einen Kratzer holte. Die Wucht des Sturzes nahm mir lediglich für einen Moment die Luft, aber das kannte ich schon von meinen früheren Unfällen. Das ging vorbei.
    Ich schloss meine Augen und ging im Geiste Stück für Stück meinen Körper durch. Füße: kribbelnd, aber beweglich. Beine: okay. Arme: kalt und schmerzfrei. Kopf: ebenfalls in Ordnung. Nur mein Bauch war ungewöhnlich warm. Oder lag er auf etwas Warmem? Es hatte den ganzen Nachmittag geregnet und es war kühl geworden, der Waldboden konnte das nicht sein … War ich vielleicht doch tot?
    »Oooh … aaaaahhh …«, stöhnte es direkt unter meinem Gesicht. »Ich ersticke …«
    Ich hob mühsam den Kopf. Doch, es gab etwas, was wehtat. Mein Nacken. Ich musste ihn mir beim Aufprall gestaucht haben. Leander lag rücklings unter mir, die Arme immer noch ausgebreitet, den Blick an mir vorbei in den schwarzen Himmel gerichtet. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Zitternd holte er Luft und ich hörte, wie eine seiner Rippen knackte. Seine Augen fielen zu. Er sagte keinen Pieps mehr. Und ich sah auch nicht, dass er atmete.
    »Leander, mach keinen Scheiß!«, rief ich und verpasste ihm eine Ohrfeige. »Nicht draufgehen, hörst du? Das kannst du nicht, du darfst das nicht, nicht jetzt, verstanden?«
    »Luzie. Bitte. Nicht schreien. Deine Stimme … Schmerzen … mein Kopf«, bat er mit schwacher Stimme und sein Zittern verwandelte sich in ein Schlottern, das seine Zähne unkontrolliert aufeinanderschlagen ließ. Dann verebbte es wieder. Ich hörte mich aufschluchzen, zwang mich aber, nicht mehr zu schreien. Offensichtlich tat es ihm weh. Meine Tränen tropften auf sein blasses Gesicht.
    »Leander, was ist mit dir? Kannst du deine Füße noch fühlen? Kannst du sie bewegen?«, fragte ich so leise wie möglich. Er war auf seinen Rücken gestürzt, um mich abzufangen. Was machte ich nur, wenn er nun querschnittsgelähmt war, sich die Wirbelsäule gebrochen hatte? Das war seit eh und je mein Schreckgespenst. Mich nicht mehr bewegen zu können, nie mehr, den ganzen Tag im Rollstuhl zu sitzen. Wir alle hatten Angst davor, Seppo, Serdan, Billy und ich. Diese Angst hatte uns beim Parkour zusammengeschweißt, aber wir redeten nie darüber.
    Leander lag einen Moment lang so still da, dass ich fürchtete, er könnte tot sein. Weinend suchte ich nach seinem Puls. Er hob träge seinen linken Arm und griff nach meinen Fingern.
    »Fühle … alles …«, stammelte er mühsam. »Fühle viel zu viel …
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