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Verzwickt chaotisch

Verzwickt chaotisch

Titel: Verzwickt chaotisch
Autoren: Bettina Belitz
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furchtbarer. Wie war er nur da hochgekommen? Wenn ich ihn rief, würde er möglicherweise so sehr erschrecken, dass er das Gleichgewicht verlor und abstürzte. Ich musste mich von hinten an ihn heranpirschen, durch das Gestrüpp, und ebenso wie er die Mauer hochklettern. Oder war er geflogen? Konnte er das denn noch?
    Ich stahl mich durch den Burghof, immer im Schatten und an den Wänden, damit mich niemand entdecken konnte, bis ich über ein Mäuerchen und zuletzt durch einen wagemutigen Sprung auf die Waldseite gelangt war. Vor der höchsten Ruine, auf der Leander immer noch herumstolzierte, wartete ich einen Augenblick, bis mein Atem zur Ruhe gekommen war. Dann begann ich mit dem Aufstieg.
    Konzentriert arbeitete ich mich nach oben. Das hier war etwas vollkommen anderes als eine Hauswand, die man vorher abchecken und nach Hilfen untersuchen konnte. Ich sah fast nichts und immer wieder rutschten meine Hände an den verwitterten Felsvorsprüngen ab oder glaubten, einen Halt zu finden, wo keiner war. Schutt und Steine rieselten auf meinen Kopf und einmal musste ich mehrere Sekunden lang innehalten, weil ich Sand in die Augen bekommen hatte und nichts mehr erkennen konnte. Langsam verließ mich meine Kraft. Das hier war nicht Parkour, sondern Bergsteigen. Die Muskeln in meinen Armen brannten und mein Atem ging nur noch stoßweise. Doch ich musste leise bleiben, ganz leise …
    Los, Luzie, nur noch einen Meter, mehr nicht, feuerte ich mich im Geiste an. Das schaffst du … Schweißgebadet kämpfte ich mich über den letzten Vorsprung. Ich war oben. Gott sei Dank.
    Leider aber auf der falschen Mauer. Einer hohen, schmalen, unebenen Mauer, getrennt durch eine kleine Schlucht von jener Mauer, auf der Leander wie ein Schlafwandler herumtaperte. Noch mal hinunterzuklettern und die richtige Mauer zu erklimmen war jedoch undenkbar. Das würde mich zu viel Zeit kosten. Ich musste springen, so wie ich es unzählige Male auf YouTube bei anderen Traceuren gesehen hatte. Bei David. Der mich davon abhalten würde. Und erst Seppo … »Tu es nicht, Luzie«, hörte ich seine Stimme in meinem Kopf. Aber Seppo hatte auch keinen betrunkenen Schutzengel, den er retten musste.
    Ich war eine der besten Weitspringerinnen des gesamten Jahrgangs, obwohl ich klein war. Ich würde das schaffen. Es waren schätzungsweise zwei Meter, allerhöchstens drei. Ich musste nur mein Gleichgewicht halten, einen ordentlichen Anlauf nehmen und nicht im letzten Moment feige werden. Schwung hatte ich immer genug.
    Und die Landung? Wie landete man auf einer schmalen Mauer? Abrollen konnte ich mich hier nicht.
    Aber dieser Gedanke kam zu spät. Ich war bereits losgerannt. Das lockere Gestein knirschte unter meinen Sohlen, als ich absprang. Dann flog ich über den Abgrund. Und jetzt – landen. Füße nebeneinander, Luzie! In den Knien nachgeben! Weich federn! Konzentrieren! Ich geriet sofort ins Rutschen. Wie ein Trapezkünstler streckte ich meine Arme seitlich aus, um meine Balance zu finden. Doch sie wollte nicht bleiben. Immer wieder riss es mich gefährlich nach rechts und links. Schließlich ließ ich mich nach vorne plumpsen und krallte meine beiden Fäuste um die Mauersteine. Hart prallte mein Oberkörper gegen die Brüstung und ich biss mir die Lippe auf, doch ich rutschte nicht mehr. Geschafft.
    Alles war in absoluter Stille geschehen und auch jetzt zwang ich mich, so leise wie möglich zu atmen, obwohl ich vor Anspannung am liebsten laut geschrien hätte.
    Leander hatte mich nicht bemerkt. Der Alkohol hatte ihn anscheinend vollkommen benebelt. Vorsichtig sah ich mich um. Es gab tatsächlich kaum Platz, um mich aufzurichten und eine sichere Position einzunehmen. Mein unfreiwilliges Parkourgelände war nur eine verdammt hohe und verdammt schmale Mauer, die direkt vor mir leicht anstieg. Unter uns erstreckte sich zur einen Seite der Steinboden des Schwimmbadgeländes, zur anderen Seite der Wald. Wenn wir stürzten, war das unser Tod.
    Ich hob mein Kinn an und schaute hoch. Leander stand mit dem Rücken zu mir auf dem höchsten Punkt der Mauer, den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme zum Mond erhoben. Lautlos robbte ich ihm entgegen.
    Ich musste ihn irgendwie in die Bauchlage zwingen, zu mir herunter. Möglichst viel Fläche, um möglichst viel Gleichgewicht zu bekommen. Denn meine innere Stimme sagte mir, dass er im nächsten Moment springen wollte. So wie ich eben – aber hinüber auf die dritte Mauer. Das, wovon ich am ersten Tag hier geträumt hatte.
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