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Verzwickt chaotisch

Verzwickt chaotisch

Titel: Verzwickt chaotisch
Autoren: Bettina Belitz
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Fehlern und sie hatten die Aufgabe, diese Fehler auszugleichen. Sie verstanden nichts von Liebe und Freundschaft und Familie. Sie wussten, dass all das wichtig war – ja, das war ihnen klar. Aber sie selbst hatten so etwas nicht. Sie funktionierten nur.
    Gestern hatte mich Leander wieder bis weit nach Mitternacht mit der Frage gepiesakt, was denn nun einen Menschen von einem Wächter unterscheide. Er würde bei sich und den Menschen gar keinen großen Unterschied sehen. Ich hab nur gelacht. Richtig, Leander hatte einen Körper – einen ganz netten sogar, musste ich zugeben -; er aß und trank und ging aufs Klo und schlief und bewegte sich.
    Aber sehen und hören konnte nur ich ihn. Fühlen konnten ihn fatalerweise alle und das machte das Zusammenleben mit Leander fürchterlich kompliziert. Ganz abgesehen davon, dass er gerne stundenlang duschte, ständig französische Lieder trällerte, Essensreste in meinem Zimmer verteilte und täglich meinen Hund entführte. (Er ging ohne Leine mit ihm Gassi, was Mama jedes Mal beinahe hysterisch werden ließ, weil sie fürchtete, Mogwai könne überfahren werden. Sie wusste ja nicht, dass Leander dabei war und den Hund wie seinen Augapfel hütete. Und eine Leine nehmen konnte er nicht – sie würde ohne sichtbaren Leinenführer in der Luft herumtanzen.)
    Ich hatte keine Lust, mit Leander über Gefühle zu reden. Oder sie ihm gar beizubringen. Denn damit waren ernste Themen verbunden. Menschen konnten traurig werden. Angst haben. Sich verlieben – so wie ich mich in Seppo. Damals. Nur Ärger hatte das gebracht. Ich mochte diese Themen nicht. Es reichte mir, dass Mama dauernd Pubertätsfrauengespräche mit mir führen wollte, während Leander feixend danebensaß und sich königlich über uns amüsierte.
    Erst vorgestern hatte Mama mir einen blasslila Spitzen-BH von H&M mitgebracht und darauf bestanden, dass ich ihn an Ort und Stelle (neben dem Schreibtisch, auf dem Leander mit baumelnden Beinen und blitzenden Augen saß) anprobierte. Dabei wusste Mama ganz genau, dass ich a) kein Rosa und Lila mochte und b) BHs verabscheute. Sie piekten und zwickten. Außerdem hatte ich (noch) nicht genug Material zum Hineinpacken. Auch das wusste Mama. Ich war vierzehn – gerade erst geworden, am 1. April. Meiner Meinung nach konnte ich mit achtzehn anfangen, BHs zu tragen. Oder mit neunzehn. Vielleicht auch niemals.
    »Luzie. Du konzentrierst dich nicht«, meckerte Leander und vollführte einen letzten vorbildlichen Sit-up. Dann sprang er leichtfüßig auf, positionierte sich vor dem ovalen Spiegel, den Mama mir vor einigen Tagen an die Wand neben den Schrank gehängt hatte (sie meinte, Mädchen müssten einen Spiegel im Zimmer haben), und zog erwartungsvoll sein Shirt hoch. Das war auch eine von Leanders Eigenschaften, an die ich mich wohl niemals gewöhnen würde. Er war viel zu gerne nackt. Er kannte kein Schamgefühl. Aber wie sollte ich ihm erklären, was Schamgefühl war? Es war zwecklos. Das brauchte ich gar nicht erst zu probieren.
    »Coooool«, raunte Leander andächtig, als er seine Bauchmuskeln anspannte und sie kleine runde Schatten warfen. »Hey, Luzie, sieht das nicht supercool aus?«
    »Hmpf«, machte ich. Es war egal, was ich sagte. Leander fand sich so oder so umwerfend. Das Gemeine daran war, dass er damit gar nicht unrecht hatte. Cool fand ich ihn nicht. Dafür zeterte und schimpfte und gockelte er zu viel. Aber manchmal wünschte ich mir, Sofie würde ihn sehen und bestaunen können. Oder Seppo. Damit er wüsste, dass ein Junge bei mir im Zimmer wohnte und neben mir auf dem Sofa schlief. Jede verdammte Nacht. Ein Junge mit einem grünen und einem schneeblauen Auge, verwuschelten Haaren und einer Haut, die aussah, als habe er die letzten Wochen auf Hawaii verbracht. Außerdem hatte dieser Junge ein gigantisches Engelsflügel-Tattoo auf dem Rücken. Dieses Tattoo war in der Tat cool.
    Prüfend betastete ich meine eigenen Bauchmuskeln. Sie waren da, aber man konnte sie nur erahnen. Und ich würde es tunlichst bleiben lassen, sie Leander zu zeigen. Jetzt beugte er seine nackten Arme und begutachtete kritisch seine Bizeps.
    »Pass bloß auf, dass du kein Gorilla wirst«, murrte ich. »Zu viele Muskeln sind eklig.«
    »Pfff«, machte Leander und rückte sein Stirntuch zurecht. Gewinnend grinste er sein eigenes Spiegelbild an. Wie immer blieben meine Blicke an dem Grübchen hängen, das sich in seiner linken Wange bildete, wenn er lächelte. Es war ein Fluch, diese
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