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Versunkene Inseln

Versunkene Inseln

Titel: Versunkene Inseln
Autoren: Marta Randall
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ge­wußt, bis er es mir im Mu­se­um zu­flüs­ter­te. Und ich hat­te mir nicht ein­mal die Zeit ge­nom­men, um über das Warum nach­zu­den­ken.
    „Nein, es gibt kei­ne an­de­ren Sterb­li­chen. Fin­den Sie das be­ru­hi­gend?“
    „Ich ha­be es Ih­nen zu er­klä­ren ver­sucht. Er war ge­nau­so sterb­lich wie Sie.“
    Jen­ny starr­te aufs Meer hin­aus, und ih­re Au­gen wa­ren ge­nau­so trüb wie die ih­res Lieb­ha­bers. Wie vie­le Men­schen hat­te ich dort oben ge­tö­tet?
    Nein, er war nicht mein Kind. Aber er hät­te es sein kön­nen, das wä­re durch­aus mög­lich ge­we­sen. Ich war nie sehr keusch.
    Ich hob den Kopf, und mein Blick glitt durch das nop­pen­be­setz­te Schwei­gen des Raums. Ich seufz­te. Und stand auf. Zu vie­le Fra­gen, ein zu quä­len­des Schuld­be­wußt­sein. Ich konn­te die End­gül­tig­keit von To­bi­as’ Tod nicht mil­dern, in­dem ich end­los grü­bel­te. Und ich konn­te ihn nicht ein zwei­tes Mal um­brin­gen. Jen­seits des Raums wog­te das Meer, glitt der Mond durch sei­ne Pha­sen, dreh­te sich die Er­de um die Son­ne und die Son­ne um das Zen­trum der Ga­la­xis. Al­les er­füll­te sei­nen Zweck, al­les hat­te sei­nen Sinn. Und es war mei­ne Auf­ga­be, einen Sinn zu fin­den für die­se Qual, die­ses Ster­ben. Ei­ne Bei­set­zungs­ze­re­mo­nie der tiefe­ren Be­deu­tung zu ent­wi­ckeln.
    Ein Fisch stirbt, und sein Tod bil­det die Le­bens­grund­la­ge für an­de­re Fi­sche und Mee­res­ge­schöp­fe. Oder der Ka­da­ver sinkt hin­ab und wird ein Teil der üp­pi­gen Frucht­bar­keit am Mee­res­grund. Ein Ozean stirbt, und sein Ver­ge­hen ist die Ge­burt von Land. Ei­ne Klip­pe zer­bricht un­ter der Wucht der Bran­dung, und das Meer ist zu­gleich ge­schrumpft und grö­ßer ge­wor­den. Ein kon­ti­nu­ier­li­cher Pro­zeß, und je­der Tod stellt ein Plus für den Zy­klus des Le­bens dar, je­de Di­vi­si­on mul­ti­pli­ziert, je­des Sub­tra­hie­ren ad­diert. All dies ist nicht oh­ne ei­ne ge­wis­se Har­mo­nie: Le­ben und Tod ste­hen im Ein­klang zu­ein­an­der, und es ist die­se gleich­wer­ti­ge Be­deu­tung, die­ser Ge­gen­satz, der je­dem Aspekt sei­nen Sinn gibt. Und das ist es auch, was Lip­pen­cotts Kin­der ver­lo­ren ha­ben. Was ich ver­lo­ren ha­be. Den Trost des Wan­dels, die Wür­de des Ent­wick­lungs­ver­laufs.
    Er hät­te sehr gut mein Kind sein kön­nen. Und die Be­zah­lung für sein Le­ben soll­te dar­in be­ste­hen, daß ich mein ei­ge­nes aufs Spiel setz­te. Er hät­te mein Sohn sein sol­len.
    Ich wan­der­te durch den wei­ten Raum, bis ich vor dem dunklen Berg von Mit­su­ya­gas letz­ter, noch nicht er­prob­ter Schöp­fung stand. Ich be­rühr­te den grau­en Fleck; der Hau­fen teil­te sich, und die bei­den Hälf­ten kro­chen lang­sam aus­ein­an­der und ent­hüll­ten ein zu­ge­stöp­sel­tes Fläsch­chen, das auf ei­nem klei­nen schwar­zen Ab­satz stand. Sonst nichts. Kein Bild­schirm. Kei­ne Auf­lis­tung von Spra­chen, kei­ne An­häu­fung von Wor­ten. Ich nahm die Phio­le in die Hand und be­trach­te­te die im In­nern schwim­men­de, graue Flüs­sig­keit, die sich nur in der Far­be von Was­ser zu un­ter­schei­den und eben­so leicht zu sein schi­en. Es fehl­te nur noch ein Eti­kett mit der Auf­schrift „Trink mich.“
    Hin­ter mir wuchs ei­ne Lie­ge aus dem Bo­den. Ich ließ mich dar­auf nie­der, das Fläsch­chen noch im­mer in der Hand. Ver­spür­te kei­ne Be­den­ken, kei­ne be­son­de­ren Er­war­tun­gen, war ganz ru­hig und ge­las­sen. Ich öff­ne­te den Ver­schluß der Phio­le, hob sie, pros­te­te To­bi­as schwei­gend zu und trank die Flüs­sig­keit.
    Ich fühl­te ei­ne tief­grei­fen­de Ver­än­de­rung. Es war, als ha­be das Uni­ver­sum die Gang­art ge­wech­selt. Ich streck­te mich auf der Lie­ge aus, schloß die Au­gen und ließ das lee­re Fläsch­chen aus der Hand glei­ten und auf den wei­chen Bo­den fal­len.
    Die Dun­kel­heit hin­ter mei­nen Au­gen­li­dern lös­te sich lang­sam auf. Kon­tu­ren form­ten sich, Far­ben wog­ten, ei­ne ge­stalt­lo­se Be­we­gung, ge­ra­de jen­seits mei­ner Wahr­neh­mungs­schwel­le. Ich wur­de un­si­cher, als ich kei­nen Be­zugs­punkt fand in die­sem be­stän­di­gen, ver­wir­ren­den Strö­men.
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