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Versunkene Inseln

Versunkene Inseln

Titel: Versunkene Inseln
Autoren: Marta Randall
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hin­aus auf den obers­ten Ab­satz, den schma­len Sims, der das Mi­na­rett in fünf­zehn Me­ter Hö­he über dem Was­ser­spie­gel um­gab. Es gab nur einen Weg hin­un­ter, und der führ­te über die Trep­pe. Kei­ne Spal­ten, kei­ne Ni­schen, kein Platz, an dem man sich ver­ste­cken konn­te. Ich war nicht in der La­ge in­ne­zu­hal­ten und lief ganz um das Mi­na­rett her­um, bis ich wie­der in Sicht­wei­te zur Trep­pe ge­lang­te. To­bi­as sprang ge­ra­de auf den Sims und ent­deck­te mich. Ich blieb ste­hen und leg­te die Hand auf die küh­le Wand des Mi­na­retts. Er hielt den La­ser ganz ru­hig, und auf dem Lauf glüh­te die lind­grü­ne Be­reit­schafts­an­zei­ge. Es gab kei­ne Flucht­mög­lich­keit mehr.
    „To­bi­as. Nicht. Bit­te.“
    Und To­bi­as’ Lip­pen be­weg­ten sich und form­ten ein Wort, das ich nicht hö­ren konn­te. Er schritt lang­sam auf mich zu.
    „Das ist kein Spiel, To­bi­as. Hör jetzt auf. To­bi­as?“
    Er kam wei­ter auf mich zu, und es war mir ein Rät­sel, warum er mich nicht ein­fach er­schoß. Ich häm­mer­te ge­gen die Tü­ren in mei­nem Geist, und mein In­ners­tes krampf­te sich zu­sam­men in dem Be­mü­hen zu trans­fe­rie­ren, zu sprin­gen, fort von hier. Doch die Tü­ren wa­ren ver­rie­gelt, und ich konn­te den Schlüs­sel nicht wie­der­fin­den. Schrit­te er­tön­ten auf der Trep­pe, Stim­men rie­fen auf dem Deck un­ter uns, und To­bi­as kau­te sein un­hör­ba­res Wort. Sei­ne Hand zit­ter­te nicht im ge­rings­ten.
    „To­bi­as!“ Jen­ny stürm­te auf den Sims und er­starr­te, doch er wand­te den Blick nicht von mir ab. Er hob den La­ser und nahm mich mit dem Fin­ger am Ab­zug sorg­fäl­tig aufs Korn.
    „NICHT!“ schrie mein Mund, mein Geist, mein In­ners­tes, mei­ne See­le. NICHT! AUF­HÖ­REN!
    Und To­bi­as hör­te auf.
    Sein Ge­sichts­aus­druck ver­än­der­te sich nicht, als er nach vorn kipp­te und re­gungs­los lie­gen­blieb. Ei­ne Hand rag­te über den Sims hin­aus und bau­mel­te über dem Flug­deck. Sein Fin­ger lös­te sich vom Ab­zug.
    Jen­ny und ich tra­ten lang­sam an ihn her­an. Ich knie­te mich nie­der, be­rühr­te sei­nen Hals und roll­te ihn her­um. Sei­ne Lip­pen zit­ter­ten, und ich beug­te mich her­ab und streng­te mich an zu ver­ste­hen, was er sag­te.
    „Mut­ter“, wis­per­te To­bi­as, dann brach sein Blick, und sei­ne leb­lo­sen Au­gen ver­wei­ger­ten mir ei­ne Ant­wort. Sei­ne Brust un­ter mei­ner Hand senk­te sich und rühr­te sich nicht mehr. Jen­ny stand auf. Ge­schockt und ver­wirrt sah ich zu ihr auf.
    „Ich ha­be es Ih­nen zu er­klä­ren ver­sucht“, sag­te sie matt. „Er war ge­nau­so sterb­lich wie Sie.“
    „Aber …“ brach­te ich her­vor. „Ich bin nicht sei­ne …“
    „Das spielt jetzt kei­ne Rol­le mehr. Sie ha­ben ihn ge­tö­tet.“ Jen­ny schau­der­te, ließ sich auf dem Sims nie­der und starr­te hin­aus aufs Meer. Ih­re Au­gen wa­ren ge­nau­so trüb wie die von To­bi­as.
     

49
     
    Ich er­hob mich, starr­te Jen­ny an und wand­te mei­nen Blick dann dort­hin, wo sich die an­de­ren Un­s­terb­li­chen auf dem obers­ten Trep­pen­ab­satz ver­sam­melt hat­ten. Har­kness um­klam­mer­te das Ge­län­der; sei­ne Knö­chel wa­ren weiß, eben­so wie die Wan­gen, in de­nen die Mus­kel mahl­ten. Gre­ville hin­ter ihm blick­te starr auf To­bi­as, und sein Ge­sicht war fast ge­nau­so bleich wie sei­ne ge­färb­ten Haar­sträh­nen. Hart konn­te das Zit­tern nicht un­ter­drücken, das sei­nen gan­zen Leib er­faßt hat­te. Li. Lon­nie. Paul, das Ge­sicht völ­lig aus­drucks­los, je­der Emo­ti­on be­raubt, von ei­ner äs­the­ti­schen Schön­heit in sei­nem Schock. Und Jen­ny, nun völ­lig in sich selbst zu­rück­ge­zo­gen, in den Au­gen der trü­be Schim­mer sich im Krei­se be­we­gen­der Ge­dan­ken. Lang­sam wand­te sich die Auf­merk­sam­keit der Un­s­terb­li­chen vom Ge­tö­te­ten ab und dem Tä­ter zu, und ih­re Bli­cke durch­bohr­ten mich.
    „Bit­te. Es war nicht mei­ne Ab­sicht … ihr habt ihn ge­hört … ich woll­te nicht …“ Aber ich hat­te es ge­wollt. „Er woll­te mich tö­ten …“ Aber ich hat­te ihn ge­tö­tet. Ihn auf­ge­hal­ten. Und nun lag er auf dem in grel­len Son­nen­schein
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