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Versunkene Inseln

Versunkene Inseln

Titel: Versunkene Inseln
Autoren: Marta Randall
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hinaus und baumelte über dem Flugdeck. Sein Finger löste sich vom Abzug.
    Jenny und ich traten langsam an ihn heran. Ich kniete mich nieder, berührte seinen Hals und rollte ihn herum. Seine Lippen zitterten, und ich beugte mich herab und strengte mich an zu verstehen, was er sagte.
    „Mutter“, wisperte Tobias, dann brach sein Blick, und seine leblosen Augen verweigerten mir eine Antwort. Seine Brust unter meiner Hand senkte sich und rührte sich nicht mehr. Jenny stand auf. Geschockt und verwirrt sah ich zu ihr auf.
    „Ich habe es Ihnen zu erklären versucht“, sagte sie matt. „Er war genauso sterblich wie Sie.“
    „Aber …“ brachte ich hervor. „Ich bin nicht seine …“
    „Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie haben ihn getötet.“ Jenny schauderte, ließ sich auf dem Sims nieder und starrte hinaus aufs Meer. Ihre Augen waren genauso trüb wie die von Tobias.
     

49
     
    Ich erhob mich, starrte Jenny an und wandte meinen Blick dann dorthin, wo sich die anderen Unsterblichen auf dem obersten Treppenabsatz versammelt hatten. Harkness umklammerte das Geländer; seine Knöchel waren weiß, ebenso wie die Wangen, in denen die Muskel mahlten. Greville hinter ihm blickte starr auf Tobias, und sein Gesicht war fast genauso bleich wie seine gefärbten Haarsträhnen. Hart konnte das Zittern nicht unterdrücken, das seinen ganzen Leib erfaßt hatte. Li. Lonnie. Paul, das Gesicht völlig ausdruckslos, jeder Emotion beraubt, von einer ästhetischen Schönheit in seinem Schock. Und Jenny, nun völlig in sich selbst zurückgezogen, in den Augen der trübe Schimmer sich im Kreise bewegender Gedanken. Langsam wandte sich die Aufmerksamkeit der Unsterblichen vom Getöteten ab und dem Täter zu, und ihre Blicke durchbohrten mich.
    „Bitte. Es war nicht meine Absicht … ihr habt ihn gehört … ich wollte nicht …“ Aber ich hatte es gewollt. „Er wollte mich töten …“ Aber ich hatte ihn getötet. Ihn aufgehalten. Und nun lag er auf dem in grellen Sonnenschein getauchten Sims, vollkommen allein und verlassen, der einzige andere Mensch, der wie ich gewesen war, tot aufgrund meiner arglistigen Überlegenheit, meines in Panik versetzten Stolzes. Ich hatte Tobias umgebracht. Und ich besaß keine Waffe, die ich nun voller Ekel fortschleudern konnte, denn ich selbst hatte es getan. Ich ganz allein.
    „Bitte“, flehte ich die Geschworenen an, die mich nicht freisprechen konnten, und langsam glomm Entsetzen in ihren Augen auf. Ich trat einen Schritt auf sie zu, und sie wichen vor mir zurück und scharrten mit den Füßen. Noch immer starrten sie mich an und sahen die frisch in mein Gesicht eingebrannte Schuld. Schweigend schritten wir über den Sims, dann die von Sonnenschein überflutete Wendeltreppe hinab. Wir waren aneinander gefesselt: Ich konnte mich nicht weiter von ihnen entfernen, und sie vermochten mir nicht näher zu kommen. Hinunter, weiter hinunter … und über uns, auf der Krone der Ilium, blieben Jenny und ihr toter Liebhaber zurück. Wie viele Menschen hatte ich dort oben getötet?
    Sie drängten sich auf dem Mosaikdeck zusammen und bewegten sich als eine Einheit von mir fort, als ich auf die Außenreling des Schiffes und das Meer darunter zuging. Die Unsterblichen standen nun dicht beieinander am Hüpfer, und hoch oben sah ich die schlanke, gegenüber dem Blau des Himmels scharf abgegrenzte Kontur von Jennys Körper. In der umfassenden, grenzenlos scheinenden Stille schwang die Tür in meinem Geist auf.
    „Es tut mir leid“, flüsterte ich und transferierte hinab.
     

50
     
    Stunden vergingen, Tage vielleicht. Um mich herum summte der Raum. Wärme tropfte von den Wänden, frische Luft zirkulierte, und die Lebensmittel lagen unangetastet an den Wänden der Vorkammer. Ich hockte am Eingang zu Mitsuyagas Königreich und konnte mich nicht rühren.
    „Mutter“, hatte er gesagt. Und war gestorben. Er war nicht mein Sohn. Ich hatte keine Kinder, konnte keine Kinder bekommen. „Er war genauso sterblich wie Sie.“ Wie ich? Hatte er auch so darunter gelitten? Meine Gedanken wirbelten im Kreis, und ich war nicht in der Lage, aus diesem düsteren Strudel auszubrechen und an die Gestade der Konzentration zurückzukehren; die einzelnen Szenenbilder und Erinnerungsfetzen entzogen sich meiner Kontrolle. „Mutter“, sagte er, nachdem ich ihm bereits den Tod eingepflanzt hatte. Ich? Ich ganz allein?
    Als ich Tobias zum erstenmal begegnete (ich saß in der Tauchkammer und flickte einen Gummischlauch,
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