Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Versunkene Inseln

Versunkene Inseln

Titel: Versunkene Inseln
Autoren: Marta Randall
Vom Netzwerk:
das Universum die Gangart gewechselt. Ich streckte mich auf der Liege aus, schloß die Augen und ließ das leere Fläschchen aus der Hand gleiten und auf den weichen Boden fallen.
    Die Dunkelheit hinter meinen Augenlidern löste sich langsam auf. Konturen formten sich, Farben wogten, eine gestaltlose Bewegung, gerade jenseits meiner Wahrnehmungsschwelle. Ich wurde unsicher, als ich keinen Bezugspunkt fand in diesem beständigen, verwirrenden Strömen. Wogen aus Wonne spülten mir aus dem Kaleidoskop entgegen und lockten, Ranken aus Euphorie winkten, verstohlene Reben aus Vergnügen. Und dahinter – nichts. Sich dieser Schwemme hinzugeben hieße, für alle Zeiten auf den Wellen der Ekstase zu reiten, in Essenzlosigkeit zu tanzen, alles hinter mir zu lassen, was ich war, bin und sein würde. Das Verlangen, mit dem Entzücken zu verschmelzen, war ein verlockendes Zerren in mir. Aber ich suchte Bedeutung, nicht Tod, nicht Ekstase. Ich würde das Schicksal von Tobias oder Benito – oder auch mein eigenes – nicht als Vorwand dazu benutzen, diesem Problem auf möglichst elegante Weise auszuweichen. Geduldig ertrug ich das Reißen und wartete darauf, daß sich mir eine Bedeutung offenbarte.
    Bald darauf wurde das Kaleidoskop von unbestimmten Wänden langsam umschlossen. Meine Wahrnehmungen klärten sich, und ich erkannte Unterteilungen in dem Wirbeln, die Konstanten inmitten der Veränderlichen. Das Muster wurde deutlicher. Das verrückte Tanzen verlangsamte und stabilisierte sich, wurde fast zu einer stillen Fixierung innerhalb der Zone des Wandels. Beruhigt und mit neuer Zuversicht wagte ich mich hinein.
    Es war mir sofort vertraut, kaum befand ich mich im Innern. Hier die Wölbung meiner Lunge, dort das Pochen des Herzens, all die festen inneren Organe. Dick und dehnbar, diese Bänder und Stränge, die die einzelnen Bestandteile zu einem Ganzen zusammenschnüren. Ich tastete mich zu den hellen und glänzenden Impulsen meiner Sinne: das Sehen, und die Farben verschoben sich, schäumten ineinander, loderten auf und glühten. Das Hören, und ich wurde eingehüllt von hallenden, komplizierten Akkorden; Glockenspiele läuteten, untermalt von hohen und zarten Flötenklängen. Das Riechen, und eine Vielzahl von feinen Düften wehte mir entgegen; sie sickerten durch mein ganzes Sein, vermischten sich mit den Glocken und Farben zu einem tanzenden Konglomerat. Und das Schmecken und Fühlen. Ich öffnete mich der Flut, umarmte und genoß sie, tanzte mit dem Tanzen meines Körpers. Und stieß weiter vor.
    Eine rotierende Galaxis, hier. Ich schwebte hinein, und Erinnerungen strömten mir entgegen: das verlassene Haus meiner Kindheit, die Kühle von Eidechsen auf meiner Handfläche, die Stimme meiner Mutter, erloschene Vulkane, die sich unter einem strahlend hellen Himmel erheben, Beutel mit Süßigkeiten, den Liebhabern meiner Mutter gestohlen, die flirrende Hitze über der Wüste von Nevada, durchdrungen von dem Summen einer darüber hinweggleitenden Luftfähre, die Eiskavernen unter dem Pol. Der Geschmack von Feigendisteln, Mürbegebäck, mit Zimt überbackenen Äpfeln, der Duft langer Sommertage am Meer, das Berühren von Pinien und Espen.
    Sterne aus Empfindungen und Novae aus Wonne, aber auch die ausgebrannten Sonnen von Furcht, dunkle Hüllen verlebter Jugend, schwache Explosionen aus Schmerz. Behandlungen. Krankenhäuser. Mißtrauen. Haß. Abscheu. Schrecken. Aufklaffende Spalten in meinem Leben, ausgewaschen von einem salzigen Miasma aus Tränen – und ich begriff, daß ein fünfzig Jahre dauerndes Selbstmitleid eine verbrecherische Verschwendung ist. Ich schwebte ins Dunkel hinein.
    Stellte fest, daß es fest mit dem Licht verbunden war, entdeckte die in Einklang stehende Ausgewogenheit, die janusgesichtigen Gegensätze, die die Bedeutung eines jeden Extrems begründen, eine gegenseitige Abhängigkeit, die genauso empfindlich ist wie das unsichere ökologische Gleichgewicht in einer Wüstenoase, so unerläßlich wie Sonne und Wasser. Ich horchte, betrachtete, berührte, schmeckte, akzeptierte die Extreme und bewunderte sie. Und schwebte weiter.
    Nachdem ich die Grenzlinien meines Lebens in Augenschein genommen hatte, wandte ich mich den einzelnen Komponenten zu, drehte sie hin und her, stieß sie an, schob und drückte und formte und gestaltete, bis sich die tanzenden Faktoren alle im gleichen Takt und zur gleichen Musik bewegten – und die Harmonie war eine Komposition des Tanzes und der Tanz ein Ergebnis der Harmonie.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher