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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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Schimmern vorstellen alsdieses fast horizontal einfallende Dezemberlicht, kein umfassenderes, belebenderes Grünen und Blauen, kein innigeres Glänzen als jenes der Grasmittelstreifen auf den Feldwegen. »Ein bißchen Sonne«, wie die Wetterprognosen im »Parisien«, der einzig zugänglichen Tageszeitung, das grämlich ausdrückten, das gab es nicht: Ein jeder Moment Sonne war viel. Und daß von früh bis spät nichts als Wolken den »Horizont« bildeten, dafür wurden die Landbewohner von dem Hauptstadtjournal bedauert.
    Der chronische Regen, welcher ihr jedesmal folgte, verwandelte Wege wie Äcker und Weideland zwar in Schlammflächen, aber mit Gummistiefeln schnurstracks durch die kniehohen Lachen zu waten, oder querfeldein zu schlendern, das war immer wieder ein ganz eigenes Vergnügen, selbst in der Finsternis, wo es vom Weg – wenn’s einer war – höchstens eine unregelmäßige Pfützenreihe zu ahnen gab. Zum ersten Mal seitder Kühe-Weidezeit der Kindheit stapfte man in solchen Stiefeln und war versucht, ihnen ein Loblied anzustimmen.
    Besonders heftig regnete es in den Nächten dann zwischen den Jahren, welche früher »Rauhnächte« geheißen haben. Und dazu noch einmal »Stiefel«: Beim Klatschen des Wassers rund um das abgelegene Haus war es, als ob der Regen stiefelte: Zuerst tapste er, dann schritt er aus, und zuletzt stiefelte er, nachtlang. Es schneite nicht, und für dieses eine Mal fehlte der Schnee mir nicht.
    Beim Durchstreifen des weiten grünenden Landes – gerade in dem düsteren Abglanz kamen die Farben, und mit ihnen die Formen, besonders klar zum Vorschein – war es, als bildete ich für mich allein ein Fußvolk. Menschen sind mir in den paar Wochen kaum begegnet, wenn man von den Jägern absieht, immer zumindest zu dritt, in Gelbreflexwamsen wie Ordner oder Offizielle auf den umgepflügten braunschwarzen Schollen gruppiert, die Büchsen im Anschlag. Aber das waren keine Begegnungen, und das ständige Knallen und Ballern im Umkreis der Wälder hatte nichts von Willkommensgrüßen.
    In den sporadischen Dörfern, weitab ein jedes vom andern, war kaum jemand im Freien anzutreffen. Beim Blick durch ein Fenster einmal dort eine Greisin, reglos auf ihr Gehgestell gestützt. In der einen zu Fuß zu erreichenden Dorfbar als einziger Gast sonst der ehemalige Fernfahrer, dem der Wirt für die Behausung, allein dort, ein TV-Gerät anriet, mit der Antwort, er sei sein ganzes Leben hinter dem Lenkrad gesessen, »et je vais pas me mettre maintenant dans un fauteuil devant la télévision«.
    Kaum Leute bekam ich in der Aufschreibzeit zu Gesicht, dafür oder statt dessen nicht wenige andere Wesen. Unversehens so einmal ein tausendjähriger Kirchturm aus der Wildnis ragend und unwillkürlich den Arm gehoben ihm zum Gruß.
    Die Lerchen über dem Brachland bildeten, während sie eher piepsend als trillernd oder trällernd senkrecht, Ruck um Ruck, himmelwärts flatterten, Stufenleitern im Luftraum, indes die Schwärme der Spatzen, aus den Ackerfurchen aufstiebend, quer durch die Lüfte Trapezakte vollführten. Der Fasan, der vor dem Haus auf und ab scharwenzelte, als sei er, zumal mit den langen farbenprächtigen wippenden Schwanzfedern, der zuständige Haushahn. Die Wildschweinfamilie, die, nachdem sie wieder einen Jagdtag überlebt hatte, in der Nacht vielstimmig grunzte im Unterholz gleich neben der Landstraße, wo kein Jäger sie vermutete, sich vielrückig aus dem Fastdunkel sich buckelte und, nein, nicht grunzte, sondern tuschelte, tuschelte und sich buckelte. Die Eulen, die am hellichten Tag ausihrem Schlupfloch in den ehemaligen Kalksteinbrüchen hier flogen, lautlos wie nur eine Eule, mit einem Stupsgesicht, kalkweiß das Federkleid, genau wie der Kalkstein, an welchem sie vorbeischwebten. Die Eulen, andere, dann in den Nächten, mit ihren nachtlangen Eintonrufen, ein Lasso, dem die Schlinge fehlte (und auch wieder nicht), woraus gegen Morgen, wie als Antwort auf das Krähen der ersten Hähne, ein Zwei- oder gar kein Dreitonrufen wurde, als ein Antiphon, ein Gegenrufen zu den Hähnen, wobei die Eulen nicht selten das letzte Wort bekamen. Dazu dann das Hennengackern, das Rindermuhen, das Eselstöhnen oder -stummsein, das Fasanengieksen, das Rabenbrüllen oder -schweigen, und als der Grundton das Wildtaubenrufen, welches das der Kuckucke vorwegnahm wie auch das Falkengellen im Vorfrühling. Heilloses Durcheinander? Heilsames, für lange Momente. Der Igel, eines Morgens, nachdem ich kurz zum
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