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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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seinem Tod gewesen.
    Einmal auf der Spur, habe ich von fast jedem Stillen Ort, auf welchen ich in der weiten und der engeren Welt gestoßen bin, mit einer Einwegkamera, Photos gemacht (die mir jetzt nichtssagend vorkommen). Es waren seltsame Orte darunter, pittoreske, mondäne, versnobte, rudimentäre, erbärmliche, weltverlassene. Es gab welche, die die oberste Etage von Wolkenkratzern oder Fernsehtürmen einnahmen und deren Panoramafenster den Blick über den Centralpark bis hin zur Freiheitsstatue, über die Copacabana mit der Erlöserstatue bis zu den letzten Wellblech-Favelas boten, oder von der einen Herberge in Alaska auf einen gerade kalbenden Gletscher, von einer anderen, durch das Mückengitter, hinaus auf den mittsommernächtlichen Yukon River, über den nachtlang die Schwalben flitzten und wo der ganze Strom immer wieder unter den sich langsam und auf einmal viel schneller, wie zuschnappend, drehenden hölzernen indianischen Fischfangriesenrädern zu erdröhnen oder zu wummern schien. Von manchen Balkantoiletten beziehungsweise -abtritten hier eher zu schweigen, wenn auch nicht aus dem Grund, daß keine einzige von ihnen der Aufnahme in die Anthologie von den »Toiletten der Welt« für würdig befunden wurde – nur eins: Seltsam, daß mich dort all die Spinnweben, die Weberknechte und Fliegen, samt dem Strohbesen als Bürstenersatz, und dergleichen nie gestört haben, im Gegenteil.
    Am allerseltsamsten jene Stillen Orte, die als luxuriöse gedacht sind, weit weit weg vom Welttreiben und den Alltagsweltgeräuschen, in der Regel in einem weitläufigen, gar labyrinthischen Souterrain, eine oder zwei Etagen unterhalb der Restaurant-, Konferenz- oder sonstwelcher Gesellschaftsräume. Man schreitet von einer Tür zur andern, begleitet von einer Art Sphärenmusik, und ist noch immer nicht dort, wohin man schon die längste Zeit unterwegsist, und auch, wenn man endlich ankommt, ist das ein Nirgendwo, nicht einmal ein fernes Echo der Gesellschaft und der vertrauten Grundrisse, wo man doch gerade noch mitten im Tagesgeschehen gewesen ist.
    Jene katakombenhaften Stillen Orte, sie gemahnen mich an die Raumfluchten, wie sie mir zeitlebens, in Abständen, im Traum unterkommen, ja, unterkommen: Unter dem Haus oder der Wohnung, wo ich tatsächlich, leibhaftig, tagaus und tagein, lebe, tun sich in diesen Träumen vollkommen stille, dabei hell ausgeleuchtete, luxuriös eingerichtete Suiten auf, eine nach der andern, und eine größer und prächtiger als die andere, und eine wie die andere menschenleer, allein für mich da als deren Wohn- und Hausherrn, auf welchen die palastartigen Raumfluchten schon seit einer halben Ewigkeit gewartet haben, auf daß ich sie endlich benutze und sie mir Frucht tragen.
    Aber die Stillen Orte, die ich meine und von denen ich hier vordringlich erzählen wollte, sind ganz unabhängig von besonderer Lage und sonstwelcher äußerer Besonderheit oder Sonderbarkeit. Das, worum es mir zu tun ist, konnte sich jeweils genauso, oder vielleicht eher noch, an den sonst unscheinbaren, auch serienmäßigen Stillen Orten ereignen, von denen einzig das Ereignis mir im Gedächtnis geblieben ist, ohne eine Einzelheit der Örtlichkeit, geschweige denn deren Geometrie, und ich bin versucht, »Ideal Standard« – nicht die Warenmarke, sondern das Wort – auf mein Problem zu übertragen.
    Kleines Beispiel: Beim Verlassen solch einer gesichtslosen Toilette bin ich einmal, zwischen Tür und Angel, in einem anderen Land, auf einen gestoßen, der »mein Leser« war, einer aus wieder einem anderen Land, welcher sich, Ort hin oder her, über die Begegnung herzlich zu freuen schien, und ichmit ihm und, eingedenk des Ortes, dann umso mehr.
    Erst vor ein paar Wochen saß ich, in Cascais, am portugiesischen Atlantik, auf einer Bank an einem Parkweg, der zu den öffentlichen Toiletten dort führte, studienhalber, wenn man so will, aber eher bloß, um Ort und Umgebung auf mich einwirken zu lassen. Mit der Zeit kam dann, wohl auch durch mein Zuschauen, in die sporadisch Kommenden und Gehenden ein Zug, wie ich ihn auf den Straßen und sonstwo schon lange nicht mehr erlebt und den ich herzlich vermißt hatte. Denn ich, als der und der, oder der, der und wie ich halt bin, brauche solch einen Zug von Menschen, einen Menschenzug, und es soll keine Blasphemie sein, wenn mir jetzt beim Aufschreiben in den Sinn kommt, daß ein vergleichbares Dahinziehen sich in meinen Augen sonstwo zuletzt höchstens ereignete beim Kommuniongang
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