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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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Stimmengewirr, wie das durch dieMauern, Wände und Türen herüberdrang, zu etwas wenn nicht gerade Klangvollem, so doch in den Ohren mich Anheimelndem, und es zog mich – nicht immer – nach einer gewissen Zeit, welche ich zugleich regelmäßig überzog und auszukosten versuchte, von dem jeweiligen Stillen Ort, und dank und kraft seiner, zu den anderen, zu meinen Leuten, auch wenn die gar nicht die meinen waren, zu dem Lärmen, dem Krach, dem, gebe Gott, unendlichen Getöse der Räume zurück.
    Selbst jene gewisse Zeit an den Stillen Orten, welche ich »überzog« – im Fußballspiel hat man das »Zeitschinden« genannt –, habe ich im Lauf der nachjapanischen Jahre und Jahrzehnte benutzt zu »Gesellschaftsstudien«. Damit meine ich nicht die Abortinschriften, -zeichnungen, und dergleichen. Die habe ich zwar dann und wann gelesen, wie auch nicht?, und zur Kenntnis genommen. Sie jedoch zu betrachten und mich insie zu vertiefen, das war und ist nicht meine Sache. Dennoch bin ich an den Stillen Orten – nicht etwa den privaten, mit allen den mehr oder weniger launigen Flapsereien und Sperenzchen dort, vielmehr den öffentlich und halböffentlichen – immer neu ins Anschauen, Betrachten, und zu guter Letzt Sinnieren, Phantasieren und Imaginieren gekommen.
    In Frankreich, dem Land, wo ich nun schon lange lebe, ist das Rauchen in öffentlichen Gebäuden, in den Cafés und den Bars, seit mehreren Jahren untersagt. Auf diese Weise gehört manches, was sich dort in den Toiletten, den alten, denen von früher, aus der Raucherepoche, zum Beispiel betrachten läßt, gleichsam ins Blickfeld der Archäologie. An bestimmten Stellen, oben auf dem einst reinweißen Email der Spülkästen, auf der ebenfalls ursprünglich vielleicht weißen blechernen Deckklappe, oder wie die heißt, für die Papierrolle haben die Benutzer undRaucher in den Café- und Barklosetts ihre brennenden Zigaretten abgelegt, und die Glut hat auf den Unterlagen eine Art Muster hinterlassen. Jedenfalls begegnen mir, sowie ich auf solche Orte von früher, aus der Zeit vor dem Rauchverbot, stoße – sie werden im übrigen immer seltener –, die Brandflecken als ein Muster, in welches ich mich jedesmal pflichtgemäß, in meiner Rolle als Gesellschaftswesen, nach Kräften vertiefe.
    Jene Muster erscheinen mir von Stillem Ort zu Stillem Ort ziemlich verschieden. Es liegt mir fern, sie zu deuten. In der Natur draußen bin ich immer wieder versucht, Spuren zu lesen, von Tieren wie von Menschen, und das erscheint mir selbstverständlich. Auch die Aschenglutstellen in den Toiletten sehe ich als Spuren, einmal epische, einmal dramatische, nur daß ich nichts aus ihnen herauslese, weder, wie manchmal in einem Wald- oder Flußuferschlamm, die Spurenvon Verirrten, Spuren eines Kampfes, noch die Spur eines Menschen, der unversehens nicht mehr weiter weiß, die Spur eines, ob Mensch oder Tier, der mit oder gegen sich selber kämpft. Die Glutspuren auf den Wasserkästen und Blechklappen, ob vereinzelt oder geballt, ob nur kurz angedeutet oder ins Blickfeld deutlich eingebrannt, mit schwärzlichen Schmauchhöfen wollen nicht gelesen werden. Sie wecken statt dessen meine Phantasie, welche dabei unbestimmt bleibt, ohne auch nur den Ansatz zu einer Geschichte – unbestimmt und frei, Muster für eine andere Geschichte; und wenn die Betrachtung der Muster etwas imaginiert, so keinerlei Bilder von dem, was da an den Stillen Orten einmal wirklich geschah: es ziehen vielmehr, indem ich diese episch-dramatischen Muster erforsche, andere und wieder andere Bilder, mögliche, an meinem, wie es früher hieß, inneren Auge vorbei, ebenso epische und gleichermaßen dramatische. Seltsamer Forscher, ich. Seltsames Gemeinschaftswesen. Aber war das nicht von Anfang an so?
    Zu solch einem Gesellschaftswesen, in der Vorstellung zum Nutzen und im Dienste einer Allgemeinheit, nicht wahr, wurde ich auch, indem ich mich, kaum die Tür zum Stillen Ort hinter mir verschlossen, in einen Raumvermesser verwandelte. In fast allen Toiletten entdeckte ich auf der Stelle ein System von Formen, und zwar von geometrischen, ein System, für das ich draußen vor der Tür keine Augen gehabt hatte. Einmal drinnen, nahm ich wahr mit dem Auge des Entdeckers. Jedes der Dinge da zeigte zugleich seine geometrische Gestalt, Kreis, Oval, Zylinder, Kegel, Ellipse, Pyramide, Pyramidenstumpf, Kegelstumpf, Rechteck, Tangente, Segment, Trapez. Der Stille Ort selber war ein geometrischer Ort und wollte als ein solcher
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