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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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schau her. Da schaust du, wie? Schau, schau. Ja, schau nur. Schau!
    Fast zwei Jahrzehnte sind dann vergangen, bevor mir, in der japanischen Friedhofstoilette Anfang der achtziger Jahre, wieder ein Stiller Ort untergekommen ist, so einer zumindest, wie ich ihn mir und/oder sonstwem erzählen möchte.
    In der Zwischenzeit floß in und aus den Toiletten Blut – Filmblut; wurde ein Bekannter, nicht im Film, auf einem Abtritt, dessen Tür er in seiner Not nicht mehr aufbekam, vom Schlag getroffen; erbrach sich ein anderer, in einem anderen Land, in einen altertümlich tiefen Abortschacht, kippte da hinein und blieb zu seinem Glück, da er breite Schultern hatte (und hat), darin stecken, kopfüber, nachtlang, fast erstickt; gellt mir selber bis heute die Stimme einer alten Toilettenfrau in einer Straßenbahnendstation in den Ohren, als ich mir dort,zum ersten – und der Stimme wie auch dessentwegen, was sie sagte – wie zum (bisher) letzten Mal im Leben von einer mit wieder einem Bekannten geleerten Flasche Whiskey bis in die Haarwurzeln und Augäpfel überquellend betrunken, den Schädel unters wintereisige Wasser hielt, die Stimme, welche mir dann beim In-die-Nacht-Torkeln nachschrie: »O Graus, wie häßlich der ist!«
    Wenn der Versuch über den Stillen Ort hier, die Erzählung davon, ein Film wäre, so wäre die Sequenz jener Jahrzehnte ohne die rechten Stillen Orte rhythmisiert von Blicken durch noch und noch Zugtoilettenlöcher hinab auf noch und noch Schienenstränge, die einander überkreuzten, und in Flugzeug-Klosetts, mit dem Blick dort, bis auf die jähen aquamarinen oder sonstwie-Schwälle, eher nirgendswohin.
    Wie bin ich darauf gekommen, daß der Stille Ort in Japan sich auf einem Friedhof befand? Heute, vor dem Ans-Schreiben-Gehen, habe ich, eher zufällig, weil das Buch unversehens dalag, wieder einmal Tanizakis »Lob des Schattens« (oder »des Dämmerlichts«) zur Hand genommen und bin auf der Stelle auf seine Schilderung japanischer Tempelaborte gestoßen, gepriesen da wegen ihrer Architektur und wegen der Stille dort, wo »der Geist im wahrsten Sinn des Wortes Ruhe findet«, von Tanizaki noch über die Teehäuser gestellt. Als ich das las, habe ich mich erinnert, daß jene Toilette nicht zu einem Friedhof gehörte, sondern Teil eines Tempelbezirks war. Der Tempel selber ist mir kaum im Gedächtnis, außer einer Schar von Spatzen hoch oben in dem Holzschindeldach der Pagode, die kleinen Vögel ebenso grau wie die Schindeln und von diesen nur zu unterscheiden, weil sie sich regten, plusterten und in den Schindelritzen miteinander verstecken spielten. Undmir kommt jetzt vor, das habe ich wahrgenommen einzig dank der Zeit vorher in der Tempeltoilette.
    Jener Tempel stand in Nara, der ehemaligen Residenz der japanischen Kaiser. Ich war schon vor zwei, drei Wochen in das Land gekommen und, nach ein paar Tagen in T ō ky ō , viel unterwegs gewesen. Eigentlich war das mehr ein Umherirren. Zwar war mir das immer wieder recht, aber das ständige Irren und Verirren führte manchmal zu einer Ortlosigkeit, nah an Verwirrung und allmählich sogar Zerrissenheit. Selbst als ich, taglang kreuz und quer durch Ky ō to in noch und noch falsche Richtungen gegangen, letztendlich in dem Garten des Ryoanshi-Tempels ankam, fragte ich mich angesichts der schon von tausend Bildern bekannten Kiesfläche mit den sporadischen Steinblöcken, bei denen man sich die Inseln im Japanischen Meer vorstellen sollte, und den in Wellenlinien gerechtenKies als das Meer – oder was auch immer, oder gar nichts –: »Was soll ich bloß hier?«, und das gleiche fragte ich mich, als ich in Kamakura nach langem Hin- und Hergehetze doch noch im Friedhof dort vor der Grabstele für Yasuhir ō Ozu stand, dessen Filme mich durchschauert hatten mit Ruhe und mit Stille, und das in Gedanken heute noch tun: »Was soll ich da?« Und auch das Zeichen »mu« auf Ozus Grab – es heiße etwa »Nichts« –, um welches beim Lesen oder Photobetrachten daheim in Europa eine Art Hof geleuchtet hatte: leibhaftig dort in Kamakura vor mir: wirklich bloß nichts, noch weniger als nichts.
    Erst an jenem Morgen, beim Betreten der Tempeltoilette in Nara, wurde Japan mir heimisch; kam ich dort auf der Insel an; nahm das Land, das ganze, mich auf. Tanizaki hebt bei seinem Lob der japanischen Tempelaborte die Wände mit der feinen Holzfaserung und vor allem die Schiebetür hervor, deren hölzernes Gitter, mit hellem luftdurchlässigem Papier überklebt, von
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