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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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draußen nur einen matten Widerschein hereinlasse: Es wäre gelogen, wenn ich sagte, daß mir diese Einzelheiten jetzt vor Augen stehen. Ich weiß bloß, daß dort das von Tanizaki beschworene Dämmerlicht herrschte und daß gerade dieses mich auf der Stelle, indem es mich, zarter und zugleich stofflicher nicht möglich, umspann und bewillkommnete, nach all den Wochen des Umherirrens zurück in das Dasein, die Hiesigkeit, das Leben, zauberte, als dessen Gast. (Dabei war es schon draußen selber, in der Stadt Nara, und nicht erst im Tempelgarten, ein dämmriger, geradezu düsterer Morgen gewesen. Das bloße Licht in der abgelegenen Kabine konnte es also nicht sein.)
    Ankunfts-, Aufgenommenseins-, Hiesigkeitsgefühl? Der Stille Ort von Nara war auch einer der Befreiung. Keine bloße Zuflucht war das, kein Asyl, kein Ab-Ort. Es war, in jener Morgenstunde, ein Ort wie nur je einer, wie noch keiner vielleicht, der Ort »Ort«. Ich wurde, wie sagte man doch einmal, unbändig in ihm, erfüllt von belebend unbestimmter Energie. Der Ort hat mich begeistert. Ja, an dem Stillen Ort dort wirkte ein »Geist«, welcher, frei nach Tanizaki, für »Ruhe« sorgte, zugleich einem Beine machte, einen auf die Sprünge brachte – ein Geist der Unruhe, der Unbändigkeit, einer dahergezauberten, der Unverwundbarkeit. Wieder nach Tanizaki sei es der einzige Nachteil, »falls man unbedingt einen solchen nennen will«, derartiger Tempelaborte, daß sie gar fern von dem Hauptgebäude stehen, was »besonders im Winter Erkältungsgefahr in sich birgt«: Aber mir war, auch eine sibirische Kälte hätte mir dort nichts anhaben können, und wäre das Holzhaus samt »feiner Maserung« von einem Moment zum andern in Flammen gestanden, mit mir mittendrin, ich hätte ohne ein einziges versengtes Haar das Freie erreicht – süße Illusion? Und ob es zu solchem Geist der Unverwundbarkeit gehört, daß Tanizaki Jun’ichir ō meint, es gebe keinen geeigneteren Ort, »das Zirpen der Insekten, den Gesang der Vögel, eine Mondnacht, überhaupt die vergängliche Schönheit der Dinge zu allen vier Jahreszeiten auf sich wirken zu lassen«, und vermutlich seien die alten Haiku-Dichter an solcherart Stillem Ort »auf zahllose Motive gestoßen«?
    Wie auch immer: Seit dem Morgen in der Tempelgartentoilette von Nara – über zwanzig Jahre ist das nun her – begleitet mich der Stille Ort, über das Ding und den Platz hinaus, als Idee. Mit anderen Worten: Er ist seitdem ein Vorwurf, oder, ins Altgriechische rückübersetzt, ein Problem, ein reizvolles – in seiner ersten Bedeutung ein »Vorgebirge«, etwas zu Umfahrendes, zu Umkurvendes, wobei das Schiff, oder das Boot, oder der Nachen in diesem Fall dieSprache ist, die des umkreisenden oder umreißenden Erzählens.
    Und es trifft auch zu, daß in erster Linie das Dämmerlicht dort mich motiviert hat. (Nicht der »Schatten«, es schien ja keine Sonne, und es gab keine künstliche Beleuchtung.) Es war, als bestehe der kleine Raum aus nichts sonst als Düsternis, einer ebenso klaren wie stofflichen. Es war diese klare schimmernde Düsternis, die mich schon seit jeher im Innersten aufgerührt hatte; aufgerührt, etwas zu unternehmen. Was? Nichts Bestimmtes oder Gezieltes, einfach tätig zu werden, aufzubrechen werweißwohin, werweißwieweit, oder an Ort und Stelle zu bleiben und stante pede etwas zu machen. Was? Etwas Schönes; etwas Erstaunliches; etwas, das zu der Stofflichkeit wie auch Innigkeit solchen Düsterlichts die Entsprechung wäre. Und in dem winzigen Stillen Ort von Nara traf mich solcherart Licht geballt zur Essenz.
    Erst einmal war es, als käme der Blick durch alle die Eisenbahntoiletten hinunter, während der Kreuz- und Querjahre zuvor, auf die nach hinten wegrasenden Schienen, Gleisschwellen, schwärzlichen Kiesel unvermittelt zur Ruhe, und mit dem Stillstand verwandelten sich die Sachen unter mir: anstelle der Gleise undsoweiter nichts als der lehmgelbrote Erdboden, von welchem ein unvergleichlicher Schimmer ausging.
    In der Folge dieser Düsternis fiel mir dann ein – nein, fällt mir jetzt ein –, daß ich den Flugzeugtoiletten vorher ein Unrecht angetan habe: Denn einmal war eine jener Toiletten oben mit, sage und schreibe, einem Fensterchen ausgestattet, und durch dieses konnte ich über mir, zu Häupten, den Mond und sogar ein paar Sterne herabblicken sehen, ein Bild, zu welchem ich dort in der Kabine über eine geraume Strecke des Flugs mit der kleinsten der Iljuschin-Verkehrsflugzeuge
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