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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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aufschauen konnte, zumalich von Moskau nach Ostberlin (damals), wieder sage und schreibe, der einzige Passagier gewesen bin: Staunen folgte derart auf Staunen.
    Allein dem Stillen Ort von Nara verdanke ich es, daß ich Japan zuletzt doch erlebt habe und heute sagen kann: »Ich bin einmal im Fernen Osten gewesen.« Das machte wohl auch, bereits mit dem ersten Schritt über die Schwelle, die ich mir jetzt aus hellem, astreichen Kiefernholz vorstelle, das sofortige Abfallen der Sorge, welche mich in den Reisewochen zuvor geradezu zermartert hatte. Der konzentrierte Dämmerschimmer verwandelte mich flugs in jemand Sorglosen. Und ich spürte, die Sorglosigkeit wäre nicht beschränkt auf die Momente in der Tempeltoilette, sie hätte, fürs erste jedenfalls, Dauer, eine gewisse.
    Was für ein Leichtsinn mir dazu beschert wurde! Ah, Sorglosigkeit und Leichtsinn,schöner. Und es widersprach dem nicht, daß ich dem Ort, der mich solch leichten Sinnes werden ließ, zugleich etwas versprechen wollte. Der Tempeltoilette etwas geloben, nur was? Daß ich, begegnete ich der Frau meines Lebens – von welcher ich, vor lauter Sorgenfreiheit und Leichtsinnigkeit, gewiß war, es gebe sie irgendwo –, mit ihr die Hochzeitsreise (derartige Phantasien geisterten also damals noch) hierher nach Nara unternehmen würde.
    Und jetzt leibhaftig der lehmrotgelbe Erdboden, gesehen durch ein Astloch im Plankenboden des Aborts. Aber warum ist der Boden so weit weg, warum kommt sein Schimmer von so tief unter mir, aus solch einer Tiefe? Weil es nicht die Lehmerde unter dem Stillen Ort von Nara ist, sondern jene andere irgendwo in Japan erblickte, zwar wieder durch so ein Kiefernastloch, aber von einer Galerie, einer hölzernen, außen oben in der ersten Etage einesRyokan, eines Gasthauses, einer Herberge, sagen wir, in Mitsushima (= Kiefernstadt), am Nordmeer, wo ich Wochen später, immer noch halbwegs sorglos, tagelang geblieben bin, immer wieder bäuchlings dort auf dem Balkon liegend und durch ein bestimmtes Astloch hinab auf den Lehm äugend, im Visier Steinchen, Sandkörner, Kiefernnadeln, eine Bierflaschenkapsel, sie alle in der Optik umrandet von einem Schimmer; und zugleich, ja, zugleich, liege ich, jetzt, vor, sagen wir, sechs Jahrzehnten, ebenso kopfunter auf der Galerie des Großvateranwesens – die lange Galerie, die von den Wohnräumen abseits zum Abort geführt hat – und starre, oder stiere, durch die Bretterritzen in den Hühnerhof hinab, auf den Beton, wo keinerlei Schimmer aufsteigt, dafür aber, gelb in gelb, die dort ausgestreuten Maiskörner leuchten und von Zeit zu Zeit ein andersgelber Schnabel zwischen die Körner fährt, daß die auseinanderstieben; dazu das Tack-Tack-Tack aufdem Beton. Keine Menschenseele zu hören weit und breit; verlassener Hof, verlassene Zimmer, Hofbesen nicht einmal mehr als Stummel.
    Was ich mich während des Aufschreibens hier insgeheim manchmal gefragt habe, frage ich mich jetzt schriftlich: War mein Aufsuchen der Stillen Orte, im Lauf des Lebens gleichsam weltweit, immer wieder auch ohne spezielle Notwendigkeit, vielleicht ein Ausdruck, wenn nicht von Gesellschaftsflucht, so doch von Gesellschaftswiderwillen, von Geselligkeitsüberdruß? Indem ich inmitten der anderen abrupt aufstand und von ihnen wegging, möglichst um mehrere Ecken und über neunmalneununddreißig Stufen: ein asozialer – ein antisozialer Akt? Ja, das war, und ist, zeitweise unabstreitbar der Fall. Aber selbst da traf das in der Regel nur für die ersten Momente zu, das wortlos brüske Aufstehen und Sichentfernen. Schon während der Passage, möglichst mitUmwegen, hin, zugleich: »Nichts wie hin!«, zu dem Stillen Ort, konnte das anders werden; konnte sich die Eindeutigkeit in eine Mehrdeutigkeit verwandeln. Und es stimmte auch, daß das Verriegeln der Toilettentür in eins ging mit einem großen Aufatmen: »Endlich allein!«
    Doch wie kam es dann andererseits, daß die Stille des Ortes zwar eine Wohltat war, sie aber stärker noch wirkte, sooft sie begleitet wurde von den Geräuschen der Außenwelt, dem Wind, einem Fluß vor dem Fenster, vorbeifahrenden Zügen, Fernlastern, Straßenbahnen, sogar Polizei- oder Ambulanzwagensirenen? Und am stärksten vielleicht wirksam wurde grundiert aus der Distanz von den Geräuschen der Gesellschaft und überhaupt des Raums, aus welchem ich gerade auf und davon gegangen war? Fast jedesmal – nicht immer – wurden dort an den fernen Stillen Orten der Lärm, das Gelächter, das
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