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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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des Kirchenvolkes währendder heiligen Messe, hin zum Empfang des Leibs des Herrn, und zurück, ein jeder in seine Bank oder wohin. Ja, das war dort, hin zu dem Stillen Ort von Cascais, und zurück, solch ein Zug, und er kam weder aus Not oder gar dann einer Erleichterung, und auch nicht aus meinem Zuschauertum. Denn als ich am Ende von der Bank aufstand und mich in die Kommenden und Gehenden einreihte, wurde ich, für Momente, die aber nicht nichts waren, Teil des Zugs zum und vom Stillen Ort, der sehr Alten und der Schulschwänzer, der Krüppel und der Siechen, der Einheimischen und der Fremden, der Witwen und der Hungerleider, der Hausfrauen samt Haarnetz und der Tagediebe samt Haarfett. Und anders als bei der Kommunion war das ein Zug, wo die Kommenden die Gehenden grüßten, so oder so, ausdrücklich oder still, allein mit den Augen, ohne Hintergedanken für die paar Momente – und wenn: da waren die, anders als in der Kirche, am Platz, undrecht. Ein freundlicher kleiner Zug von uns seltsamen Vögeln ist das gewesen, ist das, ist es.
    »Studienhalber« habe ich auch ein paar andere befragt zum Stillen Ort, nein, nicht befragt, sondern mein Problem bloß so angesprochen. Was sie darauf erzählten, in Andeutungen, ich fragte nie nach, bekräftigte, was mir vorschwebte. Die Stirn in der Fremde und Verlassenheit an die Kachelwand einer Toilette gelehnt. Den Ort in der Schulzeit zum Rauchen aufgesucht, aber insgeheim eher, weil man von dort aus hin zum Fenster sah, wo die erste Liebe lebte. Durch noch so ein Fenster im unliebsamen Großelternhaus, als Waise oder Halbwaise, stundenlang auf ein Hotel namens »Zur Sonne« geschaut, bis zur Ankunft der Gäste dort, als Silhouetten in den fernen Zimmern. Und auffällig jetzt, daß alle diese fragmentarischen Erzählungen von Stillen Orten in der Längstvergangenheitspielten, und weniger in der Kindheit als in der Jugend, der Heranwachsendenzeit. Von später dann, jedenfalls bei den Gefragten, kein Mucks. Höchstens, daß einer von seiner alten Mutter erzählte, die, sooft sie sich in der Natur draußen hinhockte, dafür jedesmal eine besonders schöne Stelle, möglichst mit Aussicht, aussuchte. Nicht nur ein stiller Ort sollte es sein, sondern auch ein lieblicher. Aber das ist eine andere Geschichte.
    Zeit des Aufschreibens hat mir ein Bild zugesetzt, ein ganz und gar gegenläufiges zu dem, was ich mit dem Versuch über den Stillen Ort zu umreißen im Sinn hatte, und das Bild handelt von jenem kleinen Mädchen, welches im Frühjahr neunzehnhundertneunundneunzig, während des westeuropäischen Bombenkriegs gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, spätabends die Toilette des Mietshauses in der Stadt Batajnica nordwestlich von Belgrad aufsuchte unddort – sämtliche Haus- und Stadtbewohner, in der fraglichen Nacht zumindest, heil – von einem Bombensplitter, quer durch die Klosettwand, getötet worden ist.
    Und noch ein anderes Bild, gegenläufig oder auch nicht, hat mich beim Niederschreiben beschäftigt: Ein Mann betritt irrtümlich, irgendwo in einem riesigen Kongreßhaus, eine entsprechende Frauentoilette und trifft dort auf eine schöne Unbekannte – oder ist es umgekehrt die Frau, die sich in eine Männertoilette verirrt? Jedenfalls kommt es dort nicht etwa zum Sex (oder wie das nennen?), sondern aus der Begegnung der zwei an dem Stillen Ort entwickelt sich, langsam und mit vielen Hindernissen, die große Liebe. Aber das ist ein Bild aus einem Film, einem Film, der in der Zukunft spielt, einer sonst düsteren, wenn nicht aussichtslosen.
    An den Versuch über den Stillen Ort habe ich mich in einer ziemlich menschenleeren Gegend in Frankreich gemacht, irgendwo zwischen der Île-de-France, mit Paris inmitten, und der Normandie, in einem Zwischenbereich, fast gleich weit entfernt von der Metropole und dem Meer. Das Aufschreiben fiel in die Periode, von der es heißt, sie sei die dunkelste des Jahres, von der zweiten Woche im Dezember bis zum einunddreißigsten Dezember zweitausendundelf, was bedeutet: heute. Vor und nach dem Tun bin ich tagaus tagein durch die entlaubten Wälder, die abgeernteten meilenweiten Felder – das Land war einst die Kornkammer für den Königshof – und diejenigen der Landstraßen gestreift, welche kaum befahren waren. Wahr: Es wurde immer bald dunkel, und selbst tagsüber waren die welligen Weiten durchwirkt von einem tiefdüsteren Licht. Aber sooft, wenn auch nur für eine Stunde, die Sonne schien, konnte ich mir kaum ein herzhafteres
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