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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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gesellschaftliche Organisationen, Kriege, Wanderungsbewegungen und die Entwicklung von Zeremonien und Kulthandlungen während der letzten acht Generationen der Enga rekonstruieren, also in einer Zeit, lange bevor die ersten Europäer ins Hochland Neuguineas kamen.
    Diese Methode der Rekonstruktion aufgrund mündlicher Überlieferung lässt sich nur bei manchen traditionellen Völkern, ja möglicherweise nur bei einer Minderheit von ihnen anwenden, denn viele oder die meisten Völker verfügen nicht über detaillierte, mündlich überlieferte Kenntnisse, die weiter als ein paar Generationen zurückreichen. Dies ist davon abhängig, wie ihre Gesellschaft organisiert ist, inwieweit sie Wert auf Erfahrungen aus erster Hand legen, wer die Geschichten erzählt, in welchem Zusammenhang sie erzählt werden und inwieweit die Zuhörer sich am Geschichtenerzählen beteiligen. Nach den Feststellungen des Linguisten Daniel Everett lehnten es beispielsweise die brasilianischen Piraha-Indianer ab, über irgendetwas zu sprechen, das sie nicht mit eigenen Augen gesehen hatten; entsprechend verächtlich reagierten sie, als Everett ihnen etwas vom Leben Jesu erzählen wollte: »Hast du ihn selbst gesehen? Wenn nicht, wie kannst du daran glauben?« Ähnlich verhielt es sich mit den vielen Studien, die man seit den 1960 er Jahren bei den !Kung anstellte: Man konnte damit keine detaillierten Informationen über Ereignisse oder Lebensbedingungen gewinnen, die mehr als ein paar Generationen zurücklagen. Bei den Enga dagegen werden historische Geschichten im Männerhaus erzählt, die Zuhörer geben Kommentare ab und korrigieren Fehler, und mächtigen Einzelpersonen ist es nicht erlaubt, die Geschichte zu verfälschen und damit ihren eigenen Interessen zu dienen.
    Ein dritter Ansatz zur Erforschung traditioneller Gesellschaften verfolgt in gewisser Weise die gleichen Ziele wie die Rekonstruktion der mündlichen Überlieferung: Man bemüht sich darum, ein Bild der Gesellschaften vor den ersten Besuchen moderner Wissenschaftler zu zeichnen. In manchen Fällen gehörten Wissenschaftler zwar zu den ersten Außenstehenden, die Kontakt zu traditionellen Völkern hatten – dies gilt beispielsweise für die »Entdeckung« der Dani im Baliem Valley durch die dritte Archbold-Expedition des American Museum of Natural History im Jahr 1938  –, meist jedoch kamen Wissenschaftler erst nach staatlichen Patrouillen, Kaufleuten, Missionaren, Linguisten oder Entdeckern. Mit Sicherheit gilt dies für die große Mehrzahl der traditionellen Gesellschaften in der Neuen Welt sowie in Afrika, Australien und auf den Pazifikinseln, denn diese wurden von Europäern zwischen 1492 und dem frühen 20 . Jahrhundert »entdeckt«, also bevor die moderne Anthropologie sich als Freilanddisziplin herausgebildet hatte. Auch in jüngerer Zeit, von den 1930 er Jahren bis heute, waren an Erstkontakten in Neuguinea und im Amazonasgebiet in der Regel wegen der erforderlichen Finanzmittel und der Gefahren keine Wissenschaftler beteiligt. Wenn Wissenschaftler zu einem Stamm kommen, hat seine Veränderung aufgrund der Kontakte bereits begonnen.
    Aber auch aus den Einzelfallbeschreibungen, die von solchen wissenschaftlich nicht ausgebildeten ersten Besuchern hinterlassen werden, können wir eine Menge lernen. Ihre Berichte haben den offenkundigen Nachteil, dass sie weniger systematisch, weniger quantitativ und weniger durch eine strenge Methodik und die vorhandenen Kenntnisse über andere Stämme geprägt sind. Zum Ausgleich haben sie aber den Vorteil, dass die Informationen sich auf eine Stammesgesellschaft beziehen, die sich weniger gewandelt hat als beim späteren Besuch der Wissenschaftler. Weniger offenkundig ist ein zweiter Vorteil: Dass die ersten Beobachtungen so unsystematisch und unwissenschaftlich sind, kann gerade ihre Stärke sein. Wissenschaftliche Laien beschreiben häufig in großem Umfang alles, was ihnen auffällt, und erörtern damit unter Umständen Facetten einer Gesellschaft, die ein Wissenschaftler, der Forschungsmittel zur Untersuchung eines ganz bestimmten Phänomens erhalten hat, übersehen würde.
    Ein Beispiel ist das bemerkenswerte Buch
Dschungelkind
, das die Deutsche Sabine Kuegler über das Volk der Fayu in Indonesisch-Neuguinea schrieb. Als ich das Land 1979 zum ersten Mal besuchte, erzählte mir mein Hubschrauberpilot von einem entsetzlichen Besuch, den er kürzlich im Auftrag des Missionarsehepaares Klaus und Doris Kuegler einer gerade erst
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