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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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Vergangenheit sind.
    Was Keens andere Warnung angeht, so gibt es in jeder Wissenschaft und zu jedem Zeitpunkt Bereiche, die bevorzugt bearbeitet und finanziert werden, während andere unbeachtet bleiben. So beschäftigten sich bis vor kurzem nur wenige Anthropologen in ihren Studien an traditionellen Völkern gezielt mit der Kindheit oder dem hohen Alter. Freilandbeobachter werden davon abgehalten, auf wissenschaftlichen »Fischzug« zu gehen und alles festzuhalten, was ihnen auffällt; stattdessen erwartet man von ihnen, dass sie Bücher und Artikel zu einem ganz bestimmten Thema schreiben. Außerdem werden zu jedem Zeitpunkt auch bestimmte Interpretationen und Phänomene bevorzugt, während andere als ungenießbar gelten. So wurde beispielsweise heftig darüber gestritten, ob die berühmte Anthropologin Margaret Mead ihre Beschreibung des Verhaltens von Inselbewohnern im Pazifik manipuliert hatte, damit sie zu den vorgefassten Meinungen einer damals gängigen anthropologischen Denkrichtung passten; und bis heute wird nachdrücklich die Ansicht vertreten, traditionelle Völker würden nicht zum Krieg neigen, oder wenn sie kriegslustig seien, sei dies eine Verfälschung, die auf den Kontakt mit Europäern zurückzuführen sei, oder wenn sie wirklich kriegslüstern seien, solle man ihre Kriege nicht beschreiben, weil dies politischen Schaden anrichten könne.
    Ein zweiter Ansatz zur Beschaffung von Informationen über traditionelle Gesellschaften besteht darin, einige neuere Veränderungen der heutigen traditionellen Gesellschaften zurückzuschrauben, indem man noch lebende, nicht des Lesens und Schreibens kundige Menschen nach ihrer mündlich überlieferten Vergangenheit befragt und auf diese Weise ihre Geschichte über mehrere Generationen hinweg rekonstruiert. Natürlich wirft auch diese Methode ihre eigenen Probleme auf, und ihre Vertreter haben viel Erfahrung mit Verfahren (Pionierarbeit leistete insbesondere Jan Vansina), mit denen man die Zuverlässigkeit der gewonnenen Informationen überprüfen und sicherstellen kann.
    So arbeiteten beispielsweise die amerikanische Anthropologin Polly Wiessner und der Enga-Künstler Akii Tumu zusammen, um die mündlich überlieferte Geschichte des Volkes der Enga, der größten Sprachgruppe im Hochland von Papua-Neuguinea, zu studieren. Die schriftlich festgehaltene Geschichte begann bei den Enga erst in den 1930 er Jahren mit der Ankunft der ersten lese- und schreibkundigen Europäer, sie nehmen aber unter den Neuguineern eine Sonderstellung ein, weil sie vergangene Ereignisse durch historische Überlieferung (die als
atonepii
bezeichnet wird) festhalten, die von Mythen (
tindipii
) unterschieden wird und 8 bis 10  Generationen (das heißt 250 bis 400  Jahre) zurückreicht. Wiessner und Tumu befragten zwischen 1985 und 1998 die Ältesten von 110  Enga-Stämmen. Um den Wahrheitsgehalt der Antworten zu überprüfen, suchten sie nach Übereinstimmungen zwischen Berichten aus verschiedenen Clans und verschiedenen Stämmen; sie überprüften, ob Berichte über Kriege und Wanderungsbewegungen, die von Nachkommen der Teilnehmer beider Kriegsparteien oder wandernden Gruppen gegeben wurden, mit denen von Nachbargruppen übereinstimmten; und sie fragten, ob Informationen über einen Lebensbereich (beispielsweise den zeremoniellen Austausch von Schweinen) den Erkenntnissen über andere Lebensbereiche (beispielsweise Landnutzung und landwirtschaftliche Produktion) entsprachen. Außerdem stellten sie die mündlichen Berichte in Zusammenhang mit zwei unabhängig datierten Ereignissen, von denen alle Gruppen im Hochland von Papua-Neuguinea einschließlich der Enga betroffen waren: erstens einem großen Vulkanausbruch auf der nahe gelegenen Insel Long im 17 . Jahrhundert, durch den im gesamten östlichen Hochland eine Schicht chemisch nachweisbare Asche (tephra) abgelagert wurde und der bei den Enga wie bei aller anderen Hochlandbewohnern als »Zeit der Dunkelheit« überliefert ist (weil die Asche mehrere Tage die Sonne verdunkelte), und zweitens die Einführung der Süßkartoffel, durch die sich Landwirtschaft und Gesellschaften im Hochland in der Zeit vor 250 bis 400  Jahren stark veränderten. Mit solchen Methoden der gegenseitigen Überprüfung und Datierung konnten Wiessner und Tumu detailliert die frühere Ausbreitung von Stämmen, Bevölkerungswachstum und -größe, Umweltbedingungen, landwirtschaftliche Produktion, Nutzpflanzenanbau, Handel, politische Führung,
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