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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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entdeckten Gruppe von Fayu-Nomaden abgestattet hatte. Die Kueglers hatten auf Einladung der Fayu ihre drei kleinen Kinder mitgebracht; sie sollten bei den Fayu leben und waren für die meisten Angehörigen des Volkes die ersten Außenstehenden, die sie zu Gesicht bekamen. Sabine, die mittlere Tochter der Kueglers, wuchs also von ihrem siebten bis zum 17 . Lebensjahr bei den Fayu auf, und das zu einer Zeit, als es außer der Familie dort noch keine anderen Besucher von außen gab. Nachdem Sabine nach Europa gezogen war, um eine europäische Ausbildung zu genießen und zur Europäerin zu werden, veröffentlichte sie 2005 ein Buch über ihre Erlebnisse und Beobachtungen.
    In Sabines Buch gibt es weder Datentabellen noch eine Überprüfung von Alternativhypothesen oder Zusammenfassungen über den derzeitigen Zustand irgendeines Teilgebiets der Anthropologie. Dafür vermittelt sie dem Leser aber einen lebhaften Eindruck davon, wie das Leben der Fayu kurz nach dem Erstkontakt aussah – mit Pfeilen, die durch die Luft schwirren, mit Gefahren, Unfällen und Toten. Da Sabine mit Fayu-Kindern spielte und teilweise selbst als Fayu aufwuchs, kommt ihr Buch der Autobiographie einer Fayu nahe, gleichzeitig aber ist es mit der doppelten Perspektive als Fayu und Mädchen aus dem Westen angereichert. Deshalb konnte Sabine bei den Fayu bestimmte Merkmale wahrnehmen – beispielsweise was ihr Zeitgefühl, physische Unterschiede in ihrem Leben und ihre Psychologie angeht –, die ein Fayu für selbstverständlich halten und gar nicht erwähnen würde. Ebenso bewegend berichtet Sabine über die Rückkehr nach Europa, wo sie die europäische Gesellschaft teilweise durch die Augen einer Fayu sah; dabei fielen ihr wiederum Aspekte des europäischen Lebens auf (beispielsweise im Umgang mit Fremden oder die Gefahren beim Überqueren einer Straße), die für einen Europäer selbstverständlich wären. Vielleicht wird eines Tages ein Wissenschaftler die Fayu aufsuchen und irgendeinen Aspekt ihrer Gesellschaft beschreiben. Bis dahin werden die Fayu aber ein ganz anderes Volk sein als das, bei dem die Kueglers 1979 lebten. Kein Wissenschaftler wird Sabines Erfahrungen wiederholen können, und niemand wird beschreiben können, wie es war, bei nahezu vollständig traditionellen Fayu aufzuwachsen und so zu denken und zu fühlen wie sie.
    Die letzte Methode, mit der man Informationen über traditionelle Gesellschaften gewinnen kann, ist auch die einzige, wenn man nach Erkenntnissen über Gesellschaften der Vergangenheit strebt, die keine Schrift hatten und nicht mit schriftkundigen Beobachtern in Kontakt standen: die Archäologie. Ihre Vor- und Nachteile sind das genaue Gegenteil der Vor- und Nachteile, die sich mit modernen Beobachtern verbinden. Wenn man eine Fundstelle aushebt und mit der Radiokarbonmethode datiert, kann man eine Kultur aus Zeiten vor einigen zehntausend Jahren rekonstruieren, bevor sie mit der modernen Welt in Kontakt kam und sich entsprechend veränderte. Bedenken wegen der störenden Wirkungen des Kontakts mit der modernen Welt und den Soziologen, der bei ihnen wohnt, lösen sich hier völlig auf. Das ist ein gewaltiger Vorteil. Der zugehörige Nachteil besteht darin, dass kleine Einzelheiten wie die alltäglichen Ereignisse oder die Namen, Motive und Worte der einzelnen Menschen verloren sind. Darüber hinaus stehen Archäologen vor dem Nachteil, dass es unsicherer und mühsamer ist, aus den in archäologischen Fundstätten vorhandenen physischen Ausdrucksformen Schlussfolgerungen über eine Gesellschaft abzuleiten. Rückschlüsse über individuelle Ungleichheit in gesellschaftlicher Stellung und Reichtum versuchen Archäologen beispielsweise indirekt aus Unterschieden der Grabbeigaben und der Größe von Gräbern abzuleiten; dazu muss man Friedhöfe mühsam im Laufe mehrerer Freilandexpeditionen ausgraben. Ein moderner Ethnograph kann eine solche Ungleichheit unmittelbar während der Freilandarbeit eines einzigen Tages beobachten – aber die Ergebnisse beziehen sich dann auf eine Gesellschaft, die sich durch den Kontakt mit der Außenwelt in unbekanntem Umfang gewandelt hat.
    Die vier Methoden, mit denen wir Kenntnisse über traditionelle Gesellschaften gewinnen können, haben also unterschiedliche Stärken und Schwächen. Vermehrtes Zutrauen in unsere Schlussfolgerungen können wir haben, wenn alle vier Methoden sich anwenden lassen und zu ähnlichen Ergebnissen führen. Informationen über Stammeskriege haben wir zum
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