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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich
Autoren: Ravensburger
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herangekommen. Während des letzten Spiels, war das andere Team so sehr auf mich fixiert, dass der Rest meiner Mannschaft den Ball die meiste Zeit in der Offensive halten konnte.
    Das schien die gegnerischen Spielerinnen nicht zu stören. Stattdessen deckten sie mich mehrfach und verfolgten mich sogar, wenn ich den Ball nicht hatte. Damit brachten sie mich richtig in Rage. Genau, wie ich es mochte. Je mehr ich gereizt wurde, desto aggressiver spielte ich. Und dann passierte es.
    Gretchen tunnelte eine der gegnerischen Verteidigerinnen, indem sie den Ball durch die Beine des Mädchens passte, und landete einen Schuss aufs Tor. Ich rannte auf die Torhüterin zu, als ich sah, wie der Ball vom Pfosten abprallte, und sprang hoch. Im letztmöglichen Moment kreuzte Gretchen meine Bahn und ich knallte mit dem Kopf gegen ihre Schulter. Rums.
    Obwohl es bereits dunkel wurde, sah ich die Sonne. Dann nichts mehr.
    Ich war in der achten Klasse gewesen, als ich zum ersten Mal so etwas erlebt hatte. Er hieß Lane Garner und stand auf der anderen Seite des Volleyballnetzes mir gegenüber im Garten seiner Eltern. Die Nachmittagssonne leuchtete hinter ihm und bildete einen Rahmen um sein Gesicht, der wie Feuer aussah. Ich verliebte mich in ihn, ohne auch nur seine Augenfarbe zu kennen.
    Lane Garner schlug mir den Ball über dem Kopf weg und ich wehrte einige seiner Schmetterbälle ab. Am Ende des Tages saßen wir auf der Terrasse, schlugen mit einem Pickel Eis klein und kurbelten abwechselnd an einer altmodischen Eismaschine aus Holz, die wir zwischen den Knien hielten.
    Danach kam er jeden Tag zu mir nach Hause. Spielte mit mir vor der Tür Basketball. Da ich dauernd an ihn denken musste, konnte ich nicht schlafen … die langen, muskulösen Beine, die schlaksigen Arme, wie der Kragen seines T-Shirts immer in Richtung der linken Schulter rutschte. Lane Garner war der wunderbarste Mensch, der mir je begegnet war.
    Außer den Medikamenten, die ich verschrieben bekam, habe ich noch nie Drogen genommen, aber in jenen Monaten habe ich mich gefühlt wie eine Süchtige. Jede Sekunde wollte ich mit ihm verbringen. Für den Rest des Lebens wollte ich seine Hand halten. Und noch viel mehr: Ich wollte ihn aufsaugen, von ihm aufgesaugt werden.
    All meine Hefte schrieb ich mit seinem Namen voll und er schenkte mir eine unechte Goldkette mit einem Anhänger, auf dem LANE stand. Eines Nachts wäre ich im Schlaf fast daran erstickt, als ich mich umdrehte, aber ich trug die Kette trotzdem weiter.
    Auch an jenem Morgen in der Turnhalle der Discovery Middle School, als mir der unerträgliche Geruch überreifer Orangen in die Nase stieg und meine Welt aus den Fugen geriet, trug ich sie. Nach dem Erwachen war alles seltsam rund, als würde ich in eine reflektierende Christbaumkugel schauen. Mit der Nase lag ich in einer warmen Urinlache. Unzählige meiner nicht ganz so engen Freunde starrten mich an, darunter auch meine bald darauf ehemalige beste Freundin Gretchen Roberts … und Lane Garner.
    Nie wieder habe ich seine Hand gehalten. Nie habe ich ihn geküsst. Nie sah ich ihn von einem winzigen Punkt am Ende der Straße zu jemandem werden, der für mich die Welt bedeutete. Das Spiel war aus. Der Fluch hatte mich in seinen Fängen.
    Was man nie erfährt, wenn es um Epilepsie geht: Es ist viel mehr als das krampfhafte Zucken und Um-sich-Schlagen. Der Fluch bringt dich und deinen Körper auf noch subtilere Art und Weise durcheinander. Besonders bei Mädchen. Mein Stoffwechsel ging durch die Decke und ich nahm schnell zu. Meine Mutter ließ mich nur deshalb Sport treiben, weil die Leute mich dann als kräftig und nicht als fett bezeichneten.
    Epilepsie kann auch deine Periode beeinflussen und man neigt zu Hirsutismus . Wikipedia erklärt es wie folgt: »Bezeichnet ein männliches Verteilungsmuster der Terminalhaare bei der Frau.«
    Sehr hübsch.
    Aber das Schlimmste sind die Tonisch-Klonischen. Ein Tonisch-Klonischer ist kein Mischgetränk, das man sich in der Star-Wars-Bar bestellt, sondern ein Anfall, den mein Neurologe, Dr. Peters, als Grand Mal bezeichnete. Ein Gewitter im Gehirn. Tonisch-klonische Anfälle können verschiedenste Ursachen haben: ein chemisches Ungleichgewicht im Körper, falsche Ernährung, Schlafmangel, Blitzlichter, bestimmte Muster, Ängste, Antihistamine und so weiter. Oder, wie in meinem Fall, an jenem Tag auf dem Fußballplatz in Georgia, ein kräftiger Schlag gegen den Schädel.
    Nachdem die Sonne in meinem Kopf explodiert
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