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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich
Autoren: Ravensburger
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war, verschwand ich für einen Moment in mir selbst. Für wie lange, konnte ich danach nie sagen. Einen tonisch-klonischen Anfall zu erleben, ist nicht wie Träumen. Ich habe nie irgendwelche Bilder gesehen und man hat überhaupt kein Zeitgefühl. Man ist nur in einem Moment da und im nächsten nicht mehr, bevor man dann wieder zu Bewusstsein kommt und sich nur von anderen erzählen lassen kann, was man getan hat.
    Das Aufwachen nach einem Anfall ist furchtbar. Immer wird über Schwund der Neurotransmitter, Postiktalphase, allgemeine Amnesie und so ein Zeug geredet, aber nie darüber, wie orientierungslos man ist, wenn man nach so einem Gewitter im Kopf erwacht.
    Als ich in Georgia wieder zu mir kam, wölbten sich der Boden nach oben und der Himmel nach unten, sodass sie aufeinandertrafen. Auch alles andere in meinem Blickfeld war gewölbt: Torpfosten, Beine, Fußballschuhe, der gemähte Rasen, die Bäume vor dem Horizont. Ich wusste weder, wo ich war, noch, was passiert war.
    Das Erste, was ich sah, war ein gewölbtes Gesicht mit einem Schnurrbart, der sich um eine kürbisähnliche Nase wand. Es war der Schiedsrichter in seinen gelben Shorts. Sein Mund war weit geöffnet – ein klaffendes Loch, das an eine überdimensionale Kaffeebohne erinnerte, aus der dickflüssige Worte drangen. Was er sagte, konnte ich jedoch nicht verstehen.
    Weitere Gesichter und Beine erschienen in meinem Blickfeld. Nach einer Weile konnte ich all meine Körperteile wieder spüren. Dann war meine Mutter plötzlich da, und als ich Manda entdeckte und ihren Blick sah, wusste ich, was geschehen war, und begann zu heulen.
    Mindestens zwanzig Spielerinnen aus beiden Mannschaften standen inzwischen um mich herum. Schließlich gelang es mir, mich aufzusetzen. Mehrere Leute sprachen gleichzeitig auf mich ein. Jemand brachte mir Wasser. Sie zwangen mich zu trinken, während ich versuchte mich wieder zu sammeln.
    Manda schlang die Arme um meinen Hals und versuchte mich hochzuziehen. Ihre Hände klebten von dem blauen Wassereis.
    »Emma, Emma, Emma.«
    Ich wollte etwas sagen, doch mehr als ein Lallen brachte ich nicht hervor. Mir war schwindelig. Ich stellte die Wasserflasche ab und begab mich in den Vierfüßlerstand. Als ich mich auf Händen und Füßen im Gras langsam vorwärts- und rückwärtsbewegte, begann ich mich wieder etwas besser zu fühlen. Ich gelangte an einen Fußballschuh und blickte auf.
    Als ich ihr ins Gesicht sah, brach mit Macht die Realität über mich herein. Gretchen Roberts.
    Mein Führerschein . Der Führerschein, den man mir fast zwei Jahre lang vorenthalten hatte. Weg war er. Auf kleinen elektroenzephalographischen Wellen schwamm er davon. Ihretwegen.
    Heiße Galle stieg in mir auf wie Lava. Mit weichen Knien rappelte ich mich auf und blickte Gretchen in die Augen. Sie hatte es getan. Es war ihre Schuld – dessen war ich mir hundertprozentig sicher.
    »Eh!«, rief ich und versuchte ihr einen Finger in die Brust zu rammen. »Du warst es!«
    Lava strömte mir in den Kopf und füllte meine Augäpfel. Dann schlug ich zu. Mit voller Wucht schlug ich Gretchen ins Gesicht. Spürte, dass etwas knackte. Sie ging vor mir zu Boden. Schwankend stand ich über ihr wie ein zorniger, betrunkener Affe.
    Von allen Seiten griffen Hände nach mir und führten mich fort. Strauchelnd wurde ich zu einer kleinen Bank hinter dem Anmeldezelt gebracht. Ich heulte wie ein Schlosshund. Ich heulte überhaupt nur nach einem schlimmen tonisch-klonischen Anfall. Es war, als wäre mein Kopf voller Pfeifen und irgendeine Kraft würde den ganzen Dreck rausblasen.
    Manda hing an meinem Bein und heulte ebenfalls. Meine Mutter hingegen blieb in einigem Abstand mit überkreuzten Beinen vor mir stehen wie das Modell für ein Gemälde mit dem Titel Der letzte Strohhalm .
    »Du. Hast. Ihr. Die. Nase. Gebrochen«, schimpfte sie. »Die Nase, Emma. Ich weiß nicht, was sie tun werden … die Liga. Das war das letzte Mal. Du hast genug zweite Chancen gehabt, das weißt du ganz genau.«
    Durch die Tränen sah die Welt verschwommen aus. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Emma …«, begann Manda.
    »Sei still«, fuhr ich sie an. »Bitte sei still.«
    »Du sollst nicht weinen, Emma. Alles wird gut.«
    Daraufhin musste ich noch mehr heulen. Ich konnte sie nicht ansehen und zog mein Trikot hoch, um mir mit dem Zipfel die Augen abzuwischen. Kurz war mein Sport- BH zu sehen.
    Das Erste, was ich wahrnahm, als sich der Tränenschleier gelichtet hatte, waren zwei
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