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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich
Autoren: Ravensburger
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Offizielle des Turniers, die mit Gretchen am Erste-Hilfe-Tisch saßen. Blut tropfte ihr aus der Nase aufs Hemd. Ihre dunklen Augen funkelten böse. Ms Roberts kam auf mich zu. Sie gehörte zu der Sorte Menschen, die sich an der Oberfläche höflich gaben. Doch diese Oberfläche bekam ständig Risse und darunter sah es anders aus.
    »Das ist das letzte Mal, so wahr mir Gott helfe, dass du, du …!« Sie zeigte mit einem ihrer dicken Finger auf mich und zerrte einen der Offiziellen herbei.
    »Ich verlange, dass sie aus der Mannschaft ausgeschlossen wird. Und aus der Liga. Und wenn Sie das nicht sofort tun, werde ich Anzeige wegen Körperverletzung erstatten. Und ich werde Sie dafür verantwortlich machen. Ich werde Sie verklagen! Verstehen Sie mich? Ich werde Sie mit Haut und Haar verklagen. Was muss noch passieren, damit Leute wie Sie endlich aufwachen? Beim nächsten Mal bringt sie vielleicht jemanden um. Ist Ihnen dieser Gedanke schon einmal gekommen? Sie ist eine Gefahr für die anderen Spielerinnen.«
    »Jetzt beruhigen Sie sich mal«, schaltete sich meine Mutter ein. »Reagieren Sie jetzt nicht ein bisschen über? Meine Tochter …«
    »Ihre Tochter …«, wiederholte Ms Roberts zischend, »ist das ganze Jahr damit durchgekommen, wegen ihrer, wegen ihrer …«
    Sag’s schon , dachte ich. Wegen meiner Epilepsie. Wenn du es sagst, brech ich auch dir die Nase .
    Blass vor Wut wandte Ms Roberts sich dem Offiziellen zu, unfähig den Gedanken zu Ende zu bringen.
    »Das ist eine ernst zu nehmende Sache«, antwortete der Funktionär. »Das muss … im Vorstand … besprochen werden … die Entscheidung müssen wir abwarten. Man wird sehen.«
    »Wissen Sie, was sie mit meiner Tochter gemacht hat? Sie hat ihr die Nase gebrochen! Gretchen wird nie wieder so aussehen wie vorher, verstehen Sie das? Das war’s für sie. Wenn Sie nichts unternehmen, werde ich Anzeige wegen Körperverletzung erstatten.« Ms Roberts drehte sich zu ihrem Sohn um. »Gib mir mein Handy, ich rufe 112 an.«
    Meine Mutter begann mich lautstark zu verteidigen und Manda brüllte sowieso. Als ich in dem Moment die Autoschlüssel aus der Seitentasche der großen Umhängetasche meiner Mutter hängen sah und alle noch mit Schreien und Brüllen beschäftigt waren, griff ich danach, ohne genau zu wissen, warum, und rannte damit zum Parkplatz. Bevor es jemand mitbekam, hatte ich die Tür geöffnet, den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt, den Fuß aufs Gaspedal gestellt und brauste mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinwollte.
    Es war stockdunkel geworden. Ich bog auf den Highway ein und gab Vollgas. Zwar merkte ich, dass ich den Kia strapazierte, aber er fuhr. Straßenbeleuchtung gab es keine und ich hatte nicht einmal die Scheinwerfer an. Ich tastete nach dem Schalter. Tränen liefen mir über die Wangen, während ich das Lenkrad locker in der Hand hielt.
    Bislang war im Rückspiegel nichts zu sehen. Wahrscheinlich kümmerte sie mein Schicksal nicht. Bald war das Flutlicht der Fußballplätze nur noch ein diffuser Schein über den Bäumen, der von der hungrigen Dunkelheit des Waldes geschluckt wurde. Ich raste weiter, jagte dem Lichtkegel der Scheinwerfer hinterher.
    Ich bog in die erste Seitenstraße ein, die ich sah, und drückte abermals voll auf die Tube, worauf das Auto ins Schleudern geriet. Mir war es egal, in welche Richtung sich das Lenkrad drehte, ich ließ mich von ihm leiten.
    Plötzlich ging es bergab. Mit quietschenden Reifen rutschte ich in die Kurven wie ein Motorradrennfahrer. Den Fuß nahm ich dabei kaum vom Gas. Einige Male flog ich über Unebenheiten und der Lichtkegel der Scheinwerfer zuckte wild hin und her. Zeitweise war der Wagen so hoch in der Luft, dass die Scheinwerfer nicht einmal mehr die Straße beleuchteten, sondern das endlose Blätterdickicht.
    Mir machte es nichts aus. Ich trat fester aufs Gaspedal und sah die nächste Kurve zu spät. Das Auto hob ab und segelte über die Kante in den Wald hinab. Ich schrie und kam laut krachend hart auf dem Boden auf. Mit Wucht wurde ich erst gegen das Armaturenbrett geschleudert und dann in den Sitz gedrückt.
    Schmutz regnete auf die Motorhaube. Einen Moment blieb ich sitzen und konzentrierte mich nur aufs Atmen. Dann hob ich die Hände, starrte sie an und sah, dass sie zitterten. Ich versuchte zu schlucken, aber mein Mund war zu trocken. Aus irgendwelchen Gründen war der Airbag nicht aufgegangen. Im Scheinwerferlicht war der Wald weiß wie
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