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Gefaelschtes Gedaechtnis

Titel: Gefaelschtes Gedaechtnis
Autoren: John F. Case
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Prolog
    Zürich
    16. Juni 1996
              
              E s war nicht La Grande Jatte. Es war nicht mal Nachmittag. Nicht ganz. Aber es fühlte sich so an - genau wie auf dem Gemälde -, als ob nichts je schief gehen könnte. Der friedliche Park. Der helle und schläfrige Tag. Der neonblaue See, der in der leichten Brise glitzerte.
    Lew McBride lief durch den schmalen Park, der vom geschäftigen Bellevueplatz aus ein Stück am Ufer des Zürichsees entlangführt. Er hatte schon knapp fünf Kilometer hinter sich und war auf dem Rückweg, joggte durch den Halbschatten und dachte träge an Seurat.
    Das großartige Gemälde des Pointillisten war bevölkert von seriös aussehenden Männern mit Zylinder, fügsamen Kindern und Sonnenschirm tragenden Frauen. Doch die Zeit, die der Maler ein­ gefangen hatte, lag über ein Jahrhundert zurück. Heutzutage waren die Menschen anders und auch die Sonntagnachmittage.
    So hatte zum Beispiel die Hälfte der jungen Frauen, die er sah, ein Handy am Ohr oder fuhr Inlineskates oder beides. Sie hatten den Bauchnabel gepierct und rollten mit keckem Blick und kichernd an Fußball spielenden Kindern, dösenden Männern und Liebespärchen vorbei, die schmusend im üppigen Gras lagen. Die Luft kam frisch von den Alpen, sonnig, kühl und würzig, hier und da von einem Hauch Marihuana durchweht.
    Er mochte Zürich. Der Aufenthalt hier gab ihm Gelegenheit, sein Deutsch aufzupolieren. Es war die erste Fremdsprache, die er in der High School gelernt hatte, weil er damals für eine Austauschschülerin schwärmte. Später war Spanisch dazugekommen, ein bisschen Französisch und sogar etwas Kreol, aber zuerst Deutsch - dank Ingrid. Er lächelte bei dem Gedanken an sie, während er über den schmalen Weg lief, an einer Anlegestelle vorbei, wo Segelboote mit flatternden Fallleinen dümpelten.
    Er hatte seinen Walkman auf und hörte Margo Timmons' Version eines alten Songs von Lou Reed über eine Frau namens »Jane, sweet Jane ...«
    Musik, Bücher und Laufen waren McBrides heimliches Nikotin, und ohne das war er ruhelos und unglücklich. Deshalb besaß er kein Segelboot (konnte sich keines leisten) - obwohl er so gern eins gehabt hätte. Seine Wohnung in San Francisco — ein ausgebauter Loft unweit der Market Street — zeugte von diesen Obsessionen. Neben den Fenstern die Stereoanlage und das große Sofa. Berge von Büchern und CDs ragten auf wie Dolmen: Blues, Mornas, DeLillo und Oper. Konpa, Rock und Gospel. Chatwin über Patagonien, Ogburn über Shakespeare. Und ein Dutzend Bücher über Schach, womit McBride sich lieber lesend beschäftigte, als es zu spielen (außer vielleicht auf Haiti, wo er und Petit Pierre manchmal stundenlang über ein verkratztes Schachbrett gebeugt mit einer Flasche Rum im Oloffson saßen).
    Wenn er daran dachte, fehlten ihm der Ort, das Schachspiel, seine Freunde.
    Er warf einen Blick auf seine Uhr und zog das Tempo etwas an. Er hatte noch gut eine Stunde und zwanzig Minuten bis zu seinem Termin im Institut, und er wollte nicht zu spät kommen. (Es machte ihn verrückt, wenn er sich verspätete.)
    Das Institut für globale Studien hatte seinen Hauptsitz in Küsnacht, rund zwanzig Minuten vom Hotel Florida entfernt, wo McBride wohnte. Es war ein kleines, aber renommiertes Forschungszentrum, das von angesehenen Geldgebern beiderseits des Atlantiks finanziert wurde. Wie so viele in den Nachkriegsjahren gegründete Ei Einrichtungen beschäftigte sich das Institut mit der Idee — der vagen und schwer fassbaren Idee — des Weltfriedens. Zu diesem Zweck wurden nicht nur Tagungen abgehalten und fortschrittlichen Organisationen wie Amnesty International und Médecins Sans Frontières Mittel zur Verfügung gestellt, sondern auch Jahr für Jahr Forschungsstipendien an eine Hand voll besonders fähiger junger Leute vergeben, deren Forschungsinteressen sich mit denen der Stiftung deckten.
    Dazu zählten so unterschiedliche Themen wie »Der Aufstieg paramilitärischer Verbände in Mittelamerika«, »Islam und Internet«, »Die Entwaldung Nepals« und McBrides eigene Untersuchung, die sich mit den therapeutischen Elementen animistischer Religionen beschäftigte. Nun, da der Kalte Krieg der Vergangenheit angehörte, waren die Direktoren der Stiftung zu der Meinung gelangt, dass zukünftige Konflikte in den meisten Fällen durch ethnische und religiöse Differenzen ausgelöste Konflikte »von niedriger Intensität« sein würden.
    Nach dem Abschluss seines Studiums der
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