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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich
Autoren: Ravensburger
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konnte zu heulen.
    Einige Zeit später, als ich endlich wieder imstande war zu sprechen und er mich loslassen konnte, ohne dass ich das Gefühl hatte, von der Erde zu fallen, sagte ich: »Als wir ins Wasser gesprungen sind, in diesen Tunnel … er hätte sonst wohin führen können. Er hätte in einem Rohr enden können, in dem wir stecken geblieben und ertrunken wären.«
    Sagan lächelte, aber es war ein unsicheres Lächeln. »Stimmt, aber meiner Meinung nach war die Strömung dafür zu stark. Deshalb war ich einigermaßen optimistisch, dass der Durchlauf nicht zu schmal werden und zum Fluss führen würde. Ich hatte am meisten Angst davor, gegen einen Felsen zu schlagen.«
    Jetzt war es an mir zu lächeln. »Ich habe deine Augen gesehen.«
    »Das ist nicht komisch.«
    »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
    »Was?«
    »Was du vorhattest?«
    Sagan drehte sich auf den Bauch. »Weil ich wusste, dass Moreau es hören würde und dann Bescheid gewusst hätte. Aber ich habe mir gedacht, du würdest es verstehen.«
    Ich berührte seine Finger. »Was wäre gewesen, wenn es nicht so gewesen wäre?«
    »So war’s aber nicht.«
    Einen Moment dachte ich darüber nach. »Es gibt noch so viele andere Dinge … Was glaubst du, wovon er gesprochen hat? Seine letzten Worte?«
    »Ich bin müde«, sagte Sagan. »Ich kann nicht mehr denken. Wenn ich jetzt nicht sofort aufstehe, bleibe ich hier vielleicht für immer liegen.«
    »Wäre das so schlimm?«
    »Jetzt komm. Ein Jeep wartet darauf, aufgerichtet zu werden.«
    Ich war noch nicht bereit dafür, nach Hause zurückzukehren. Wir fuhren in die Stadt und verbrachten die Nacht in einem Hotel, das so billig war, dass es nicht einmal ein Telefon gab. Wir lagen auf dem Bett und unterhielten uns lange darüber, was ich meiner Mutter sagen sollte. Welche Lügen sie mir abnehmen würde. Aber je mehr wir redeten, desto mehr verstand ich, dass keine Erklärung gut genug wäre. Ich würde gut genug sein müssen. Sonst nichts.
    Ich lag auf der Decke und überlegte, ob ich die soleils je wiedersehen würde. Ja, ich musste sie wiedersehen. Ich musste ihnen danken. Außerdem wollte ich mehr von ihnen und über sie lernen. Vor allem aber war es mir ein Bedürfnis, Leute zu kennen, die wie ich unter einem Fluch litten, der einen eigentlich zwingt, allein zu sein, und die dennoch einen Weg gefunden hatten, der Einsamkeit zu entgehen.
    Würde l’éruption du soleil wirklich stattfinden? Sagan behauptete, wir lebten in einer Zeit mit historisch hoher Sonnenaktivität. Wenn die Sonne tatsächlich explodierte, wären sie dann noch immer auf ihrem Berg, meine Lena, mein Anton und meine Donne? Wollte ich dann auch dort sein? Würde ich die Heilung in meine Haut einziehen lassen, die mich dorthin zurückbrächte, wo ich gewesen war?
    Einige dieser Gedanken sprach ich laut aus, andere behielt ich für mich. Sagan lag neben mir und hörte mir zu, wenn er nicht gerade wieder eingedöst war. Er hatte versucht, mich in den Arm zu nehmen, aber ich konnte es nicht ertragen. Es war zu viel. Deshalb lagen wir nebeneinander, ohne uns zu berühren. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber ich konnte lange nicht schlafen. Dann schlief ich doch, zehn Stunden lang. All meine Träume spielten sich draußen ab. Nichts war in Farbe.
    An jenem Abend, nach einer Dusche und mit frischer Kleidung, war ich bereit. Fast.
    Die Zimmernummer wusste ich noch: 332. Deshalb mussten wir nicht einmal an der Anmeldung stehen bleiben. Sagan wartete vor der Tür und schaute in den Fernseher, der dort immer lief, auch wenn niemand da war.
    »Ma petite-fille!«
    Mir ging das Herz auf. Mein Großvater setzte sich auf und für eine Weile verlor ich vollkommen die Fassung; er sah so viel besser aus. Auch ihn zu umarmen war wieder leichter und für eine lange Zeit tat ich nichts anderes. Einiges erzählte ich ihm, anderes nicht. Sagan hatte mir einen Kaffee-Schokolade-Milchshake hereingeschmuggelt. Abgesehen von tarte aux pommes , dem Apfelkuchen meiner Großmutter, waren Kaffee-Schokolade-Milchshakes die liebste süße Sünde meines Großvaters.
    Ich stellte den Milchshake auf den schmalen Rolltisch neben seinem Bett. Wasser kondensierte am Rand des Pappbechers und begann in dünnen Fäden hinunterzulaufen. Unten sammelte es sich. Als ich ging, tropfte es bereits auf den Boden und der Shake war ungenießbar geworden. Uns beiden war das egal.
    Der Parkplatz hatte sich überhaupt nicht verändert. Auch unser Haus war noch genauso schäbig wie
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