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Vergiss mein nicht

Vergiss mein nicht

Titel: Vergiss mein nicht
Autoren: Karin Slaughter
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dieses von seiner Mutter getöteten Kindes, kamen die alten Gefühle wieder in Sara hoch.
    Saras Beruf war es, sich um Kinder zu kümmern. Sie hielt sie im Arm, sie wiegte sie und gab ihnen Kosenamen, wie sie es niemals mit einem eigenen Kind würde tun können. Und als sie nun im Leichenschauhaus saß und auf den schwarzen Leichensack starrte, kehrte der sehnsüchtige Wunsch, ein eigenes Kind auszutragen, mit erschreckender Intensität zurück, und mit ihm stellte sich ein überwältigendes Gefühl der Leere ein.
    Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Sara setzte sich auf, trocknete ihre Augen und versuchte sich zu sammeln. Mit den Handflächen stemmte sie sich von ihrem Schreibtisch in die Höhe und zwang sich, aufrecht zu stehen, als Jeffrey das Leichenschauhaus betrat. Sie rang noch um Fassung und suchte ihre Brille, als sie merkte, dass Jeffrey gar nicht wie gewohnt direkt in ihr Büro kam. Durch die Scheibe sah sie, dass er vor dem schwarzen Leichensack stehen geblieben war. Wenn er sie gesehen hatte, gab er ihr das jedenfalls nicht zu erkennen. Stattdessen beugte er sich über den Tisch, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Was in seinem Kopf wohl vorging? Fragte er sich auch, was für ein Leben das Baby hätte haben können? Und ob er auch über die Tatsache nachdachte, dass Sara ihm nie würde Kinder schenken können?
    Sara räusperte sich, als sie den Raum betrat. Den Obduktionsbericht hielt sie an die Brust gepresst. Sie ließ ihn auf den Tisch gleiten und stand Jeffrey gegenüber, zwischen ihnen das Baby. Der Sack war viel zu groß für das Baby und stand klaffend offen, weil Sara nicht die Kraft gehabt hatte, den Reißverschluss zu schließen und dadurch das Kind endgültig der Dunkelheit zu überantworten, um es schließlich auf einem Regal des Gefrierschranks abzulegen.
    Sara fiel nichts ein, was sie hätte sagen wollen, also schwieg sie. Sie schob eine Hand in die Tasche ihres Laborkittels und fand darin zu ihrer Überraschung die vermisste Brille. Sie setzte sie auf, als Jeffrey schließlich sein Schweigen brach.
    » Also«, sagte er schwerfällig und leise, als habe er seine Stimme in letzter Zeit nicht oft gebraucht. » So sieht es also aus, wenn man versucht, ein Baby die Toilette hinunterzuspülen.«
    Sie hatte das Gefühl, das Herz bliebe ihr stehen bei so viel scheinbarer Abgebrühtheit, und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit ihrem Hemdzipfel, um wenigstens irgendetwas zu tun.
    Jeffrey atmete tief ein und ganz langsam wieder aus. Sie beugte sich ein wenig vor, weil sie Alkohol zu riechen meinte. Eigentlich konnte das nicht sein, denn bis auf ein gelegentliches Bier, wenn er sich samstags College Football im Fernsehen ansah, trank Jeffrey so gut wie nicht.
    » Winzige Füßchen«, murmelte er, ohne den Blick von der Leiche zu lösen. » Sind die immer so klein?«
    Auch jetzt antwortete Sara nicht. Sie sah auf die Füßchen, die zehn Zehen, die Fältchen der Fußsohlen. Kleine Füße wie diese würde jede Mutter küssen wollen. Zehen wie diese würde eine Mutter jeden Tag zählen, wie ein Gärtner die Blüten an einem Rosenstrauch zählen würde.
    Sara biss sich auf die Lippe. Wollte keinesfalls die Beherrschung verlieren. Die Leere in ihrer Brust war überwältigend, und unwillkürlich legte sie eine Hand auf ihr Herz.
    Als sie endlich in der Lage war, den Blick zu heben, starrte Jeffrey sie an. Seine Augen waren blutunterlaufen, und winzige rote Äderchen zeichneten sich auf den Augäpfeln ab. Er schien Schwierigkeiten zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Sie fragte sich, ob das am Alkohol lag oder von der Trauer verursacht wurde.
    » Ich dachte, du trinkst nicht«, sagte sie und hörte ihren vorwurfsvollen Unterton.
    » Ich dachte auch, ich erschieße keine Kinder«, erwiderte er und fixierte über ihre Schulter hinweg irgendeinen Punkt.
    Sara wollte ihm helfen, war aber vom eigenen Kummer wie gelähmt.
    » Frank«, sagte Jeffrey. » Er hat mir einen Whiskey eingeflößt.«
    » Hat’s genützt?«
    Tränen schossen ihm in die Augen, und es blieb ihr nicht verborgen, wie sehr er dagegen ankämpfen musste. Seine Kiefer mahlten, und er versuchte zu lächeln.
    » Jeffrey…«
    Er wehrte sich gegen ihr Mitgefühl und fragte: » Hast du etwas gefunden?«
    » Nein.«
    » Ich weiß nicht…« Er hielt inne und senkte den Blick, schaute aber nicht auf das tote Kind, sondern konzentriert auf den gekachelten Fußboden. » Ich weiß
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