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Vergiss mein nicht

Vergiss mein nicht

Titel: Vergiss mein nicht
Autoren: Karin Slaughter
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abzudrücken. Er versuchte sich mit aller Kraft davon zu überzeugen, dass sie für den Jungen, der vor ihr stand, trotz ihres Alters eine unzweifelhafte Gefahr bedeutete. Wenn er sie nur am Bein oder an der Schulter traf, könnte sie immer noch feuern. Auch wenn er auf ihren Rumpf zielte, bestand die Möglichkeit, dass sie mit letzter Kraft einen Schuss abgab, bevor sie zusammensackte. So wie Jenny ihre Beretta hielt, wäre der Junge tot, bevor sie am Boden lag.
    » Männer sind so schwach«, zischte Jenny und visierte ihr Ziel an. » Ihr macht nie das Richtige. Ihr sagt, ihr werdet es tun, aber tut es dann doch nie.«
    » Jenny…«, bat Sara inständig.
    » Ich zähle bis fünf«, warnte Jenny. » Eins.«
    Jeffrey schluckte schwer. Sein Herz schlug so laut, dass er das Mädchen nur noch sah und fast gar nicht mehr hörte.
    » Zwei.«
    » Jenny, bitte.« Sara faltete die Hände wie zum Gebet. Sie waren dunkel, beinahe schwarz vor Blut.
    » Drei.«
    Jeffrey zielte. Sie würde es nicht tun. Es konnte einfach nicht sein, dass sie es tat. Sie war kaum älter als dreizehn! Dreizehnjährige Mädchen erschießen doch keinen Menschen! Das hier war Selbstmord!
    » Vier.«
    Jeffrey sah, wie sich ihr Finger um den Abzug schloss, sah, wie sich die Muskeln ihres Unterarms in Zeitlupe bewegten, als sie den Finger krümmte.
    » Fünf!«, schrie sie, und ihre Halsvenen traten hervor. Sie befahl: » Erschießt mich, verdammt!«, und wappnete sich gleichzeitig für den Rückstoß der Beretta. Er sah, wie sich ihr Arm anspannte und ihr Handgelenk versteifte. So schleppend verstrich die Zeit, dass er genau erkannte, wie die Muskeln ihres Unterarms arbeiteten, damit ihr Finger auf den Abzug drücken konnte.
    Sie bot ihm noch eine letzte Chance, indem sie schrie: » Erschieß mich!«
    Und er schoss.

Drei
    M it seinen achtundzwanzig Wochen wäre Jenny Weavers Kind auch außerhalb der Gebärmutter lebensfähig gewesen, wenn seine Mutter nicht versucht hätte, es die Toilette hinunterzuspülen. Der Fötus war gut entwickelt und wohl genährt. Der Hirnstamm war intakt, und mit ärztlicher Unterstützung hätten sich wohl auch die Lungen im Laufe der Zeit ausgebildet. Die Hände hätten zu greifen gelernt, die Füße, sich abzurollen, die Augen zu blinzeln. Und schließlich hätte auch der Mund gelernt, von etwas anderem zu sprechen als von den Schrecken, die er Sara jetzt stumm mitteilte. Die Lungen hatten den ersten Atem empfangen, der Mund hatte nach Leben gelechzt. Und dann war es getötet worden.
    Während der vergangenen dreieinhalb Stunden hatte Sara versucht, das Baby aus den Teilen wieder zusammenzufügen, die Jenny Weaver in dem roten Rucksack zurückgelassen hatte, der im Mülleimer der Videospiel-Halle gefunden worden war. Ihre Hände zitterten dabei, und Sara hatte oft ein zweites Mal ansetzen müssen, weil ihr die Finger beim ersten Versuch nicht gehorcht hatten.
    Aber es ging nicht. Das Trauma, das dieser werdende Mensch erlitten hatte, ließ sich einfach nicht verbergen. Schließlich gestand sich Sara ein, dass die selbst gewählte Aufgabe ein vergebliches Unterfangen bleiben würde.
    Sara atmete tief durch und ging noch einmal ihren Bericht durch, bevor sie die Ergebnisse mit einer Unterschrift bestätigte. Sie hatte mit der Obduktion weder auf Jeffrey noch auf Frank gewartet. Niemand war Zeuge geworden, wie Sara geschnitten und seziert und wieder zusammengefügt hatte. Sie hatte die anderen absichtlich ausgeschlossen, weil sie sicher war, diese Arbeit nicht tun zu können, wenn jemand dabei zuschaute.
    Ein großes Fenster trennte Saras Schreibtisch vom eigentlichen Leichenschauhaus. Sie saß zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und schaute auf den kleinen schwarzen Leichensack, der dort auf dem Seziertisch ruhte. Ihre Gedanken schweiften ab, und sie sah eine Alternative zu dem von ihr gerade untersuchten Tod. Sara sah ein Leben, in dem gelacht wurde und geweint, in dem Liebe gegeben und empfangen wurde, aber eigentlich wusste sie es besser: Jennys Baby wären diese Dinge niemals zuteilgeworden. Jenny selbst hatte davon ja kaum etwas erfahren.
    Nach einer Bauchhöhlenschwangerschaft vor mehreren Jahren konnte Sara keine Kinder mehr bekommen. Das war damals schlimm für sie gewesen, aber im Laufe der Jahre war die Trauer durch andere Dinge in den Hintergrund gedrängt worden, und Sara hatte gelernt, nicht das haben zu wollen, was sie nicht haben konnte. Aber angesichts des unerwünschten Kindes, das hier vor ihr auf dem Tisch lag,
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