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Vergiss mein nicht

Vergiss mein nicht

Titel: Vergiss mein nicht
Autoren: Karin Slaughter
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auftauchen zu lassen. Man konnte nicht wissen, wie sich die Kleine verhalten würde, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte. Ein dummer Fehler könnte vielen Menschen den Tod bringen.
    Als Jeffrey etwa fünf Meter vom Schauplatz entfernt war, sagte er so laut, dass er die Aufmerksamkeit aller auf sich zog: » He!«
    Obwohl sie bereits bemerkt hatte, dass er im Anmarsch war, zuckte das Mädchen zusammen. Sie krümmte den Finger um den Abzug. Die Waffe war eine .32er Beretta, eine kleine Pistole, die aber aus so geringer Entfernung viel Schaden anrichten konnte. Acht Schuss. Wenn das Mädchen gut schoss– und aus so geringer Entfernung würde selbst ein Affe treffen–, hielt sie acht Menschenleben in der Hand.
    » Zurück mit euch allen«, befahl Jeffrey den Umstehenden. Nach anfänglichem Zögern schienen sie zu kapieren und zogen sich in den vorderen Bereich des Parkplatzes zurück. Selbst auf diese Entfernung roch es aufdringlich nach Marihuana, und so wie der bedrohte Junge schwankte, musste er eine Menge geraucht haben, bevor ihn das Mädchen überrascht hatte.
    » Hauen Sie ab«, forderte das Mädchen Jeffrey auf. Sie war schwarz gekleidet und hatte die Ärmel ihres T-Shirts wegen der Hitze bis über die Ellbogen nach oben geschoben. Sie war knapp dreizehn. Ihre Stimme war leise, aber doch deutlich hörbar.
    Sie wiederholte ihre Aufforderung. » Ich habe gesagt, Sie sollen abhauen.«
    Jeffrey blieb stehen, und sie wandte den Blick wieder dem Jungen zu und sagte: » Ich bringe ihn um.«
    Jeffrey streckte die Hände aus und fragte: » Warum denn?«
    Die Frage schien sie zu überraschen. Die Mündung der Pistole neigte sich leicht abwärts, als das Mädchen Jeffrey antwortete.
    » Damit er aufhört«, sagte sie.
    » Womit aufhört?«
    Sie schien zu überlegen. » Das geht niemanden was an.«
    » Nein?«, fragte Jeffrey und kam einen Schritt näher, und dann noch einen. Ungefähr fünf Meter vor dem Mädchen blieb er stehen, nahe genug, um zu sehen, was passierte, aber nicht so dicht, dass sie sich bedroht fühlte.
    » Nein, Sir«, antwortete das Mädchen, und diese höfliche Anrede beruhigte ihn ein wenig. Mädchen, die » Sir« sagten, erschossen niemanden.
    » Hör mal«, fing Jeffrey an und überlegte, was er sagen sollte. » Weißt du, wer ich bin?«
    » Ja, Sir«, antwortete sie. » Sie sind Chief Tolliver.«
    » Stimmt«, sagte er. » Wie soll ich dich nennen? Wie heißt du?«
    Sie ignorierte die Frage, aber der Junge regte sich, als hätte sein von Marihuana umnebeltes Hirn plötzlich geschnallt, was los war. Er sagte: » Jenny. Sie heißt Jenny.«
    » Jenny?«, fragte Jeffrey sie. » Was für ein hübscher Name.«
    » Ja, al-also«, stammelte Jenny, ganz offensichtlich verblüfft. Doch sehr schnell hatte sie sich wieder gefasst und sagte: » Bitte seien Sie still. Ich möchte nicht mit Ihnen reden.«
    » Vielleicht doch«, sagte Jeffrey. » Ich habe nämlich den Eindruck, dass du eine ganze Menge auf dem Herzen hast.«
    Sie schien das in Erwägung zu ziehen, richtete aber ihre Beretta wieder auf die Brust des Jungen. Ihre Hand zitterte noch immer. » Gehen Sie weg, oder ich knall ihnab.«
    » Mit der Waffe da?«, fragte Jeffrey. » Weißt du, wie es ist, jemanden zu erschießen? Kannst du dir vorstellen, was für ein Gefühl das ist?« Er beobachtete, wie sie daran zu schlucken hatte, und war sicher, dass sie keinen Mord fertigbringen würde.
    Jenny war dick, sie hatte wahrscheinlich fünfundzwanzig Kilo Übergewicht. In ihren schwarzen Klamotten wirkte sie wie eines jener Mädchen, die sich für ein Leben als graue Maus entschieden haben. Der Junge, auf den sie die Waffe richtete, war hingegen ein gut aussehendes Bürschchen und wahrscheinlich das Objekt einer unerwiderten Schwärmerei. Zu Jeffreys Zeiten hätte sie ihm einen fiesen Brief in den Spind gelegt. Heutzutage fuchtelte sie mit einer Pistole herum.
    » Jenny«, fing Jeffrey an, während er sich fragte, ob die Waffe überhaupt geladen war. » Jenny, was ist denn eigentlich los? Der Typ da ist es doch gar nicht wert, dass du dir seinetwegen Ärger einhandelst.«
    » Hauen Sie ab«, wiederholte Jenny, etwas weniger bestimmt als zuvor. Mit der freien Hand fuhr sie sich übers Gesicht. Jetzt fiel ihm auf, dass sie weinte.
    » Jenny, ich glaube nicht…« Er hielt inne, als sie die Waffe entsicherte. Das metallische Klicken tat ihm beinahe körperlich weh. Er griff hinter sich, legte die Hand auf seine Waffe, zog sie aber noch nicht.
    Jeffrey
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