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Vergessene Stimmen

Titel: Vergessene Stimmen
Autoren: Michael Connelly
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Morddezernat ist, ist hier der Ort, an dem man sein muss.«
    Bosch war beeindruckt von Pratts Engagement. Er konnte Aufrichtigkeit und sogar Schmerz in seinen Augen sehen. Er nickte. Ihm wurde sofort klar, dass er für diesen Mann arbeiten wollte, eine Seltenheit während seiner Zeit bei der Polizei.
    »Vergessen Sie nur nicht, dass Sie keine Aufklärung erwarten dürfen«, fügte Pratt hinzu.
    »Schon klar«, sagte Bosch.
    »Andererseits weiß ich, dass Sie beide viel Erfahrung mit Mordfällen haben. Was Ihnen hier anders vorkommen wird, ist Ihr Verhältnis zu den Fällen.«
    »Mein Verhältnis?«
    »Ja, Ihr Verhältnis. Damit meine ich: Frische Morde zu bearbeiten ist ein völlig anderes Paar Schuhe. Man hat die Leiche, man hat die Autopsie, man überbringt den Angehörigen die traurige Nachricht. Hier haben Sie es mit Opfern zu tun, die lange tot sind. Es gibt keine Autopsien, keine konkreten Tatorte. Sie haben es mit den Mordakten zu tun – falls Sie sie auftreiben können. Wenn Sie zu den Angehörigen gehen – und glauben Sie mir: Das tun Sie erst, wenn Sie wirklich so weit sind –, dann treffen Sie auf Menschen, die den Schock bereits erfahren und Möglichkeiten gefunden oder auch nicht gefunden haben, ihn zu verkraften. Das geht einem nahe. Ich hoffe, darauf sind Sie vorbereitet.«
    »Danke für die Warnung«, sagte Bosch.
    »Bei frischen Morden hat alles etwas sehr Klinisches, weil es sehr schnell geht. Bei alten Fällen kommen viel mehr Emotionen ins Spiel. Sie bekommen sehr deutlich zu sehen, welchen Tribut Gewalttaten im Lauf der Zeit fordern. Seien Sie darauf gefasst.«
    Pratt zog einen dicken blauen Ordner von der Seite des Schreibtisches in die Mitte der Schreibunterlage. Er schob ihn auf Bosch und Rider zu, hielt aber auf halbem Weg inne.
    »Noch etwas, worauf Sie gefasst sein müssen, ist die Polizei selbst. Rechnen Sie damit, dass Akten unvollständig oder sogar völlig verschwunden sind. Rechnen Sie damit, dass Beweismittel vernichtet wurden oder verloren gegangen sind. Rechnen Sie damit, dass Sie bei manchen Fällen bei null anfangen müssen. Diese Einheit wurde vor zwei Jahren gegründet. Die ersten acht Monate waren wir nur damit beschäftigt, die Ermittlungsprotokolle durchzugehen und ungelöste Fälle auszusortieren. Wir speisten alles, was wir hatten, in die forensischen Datenbanken ein, aber selbst wenn wir einen Treffer landeten, stellte die mangelnde Fallintegrität ein massives Handikap dar. Es ist ein Fass ohne Boden. Es ist frustrierend. Obwohl es bei Mord keine Verjährung gibt, müssen wir immer wieder feststellen, dass Beweismittel und sogar Akten routinemäßig entsorgt wurden. Was ich damit sagen will: Sie werden feststellen, dass bei manchen dieser Fälle das größte Hindernis durchaus die Polizei selbst sein könnte.«
    »Jemand hat erwähnt, dass wir einen kalten Treffer hätten, der aus einem unserer Zeitblöcke kommt«, sagte Bosch. Er hatte genug gehört. Er wollte sich langsam an die Arbeit machen.
    »Ja, haben Sie«, sagte Pratt. »Dazu kommen wir gleich. Lassen Sie mich aber vorher meine kleine Ansprache noch zu Ende bringen. Ich komme ja auch nicht allzu oft dazu, sie zu halten. Im Grunde genommen, versuchen wir hier einfach, neue Techniken auf alte Fälle anzuwenden. Im Wesentlichen betrifft das drei Bereiche: DNS, Fingerabdrücke und Ballistik. Auf allen drei Gebieten haben wir in den letzten Jahren speziell, was Vergleichsanalysen angeht, erstaunliche Fortschritte gemacht. Das Problem ist, dass sich das LAPD diese Fortschritte nie zunutze gemacht hat, um neue Erkenntnisse über alte Fälle zu gewinnen. Folglich haben wir schätzungsweise zweitausend Fälle, für die uns DNS-Proben vorliegen, die aber nie ausgewertet und verglichen wurden. Seit 1960 haben wir viertausend Fälle mit Fingerabdrücken, die man nie durch einen Computer hat laufen lassen. Weder durch unsere Datenbanken noch durch die des FBI, des Justizministeriums oder sonst einer Behörde. Es ist fast lachhaft, wenn es nicht so traurig wäre. Das Gleiche gilt für die Ballistik. In den meisten Fällen ist das Beweismaterial noch vorhanden, aber niemand hat ihm je Beachtung geschenkt.«
    Bosch schüttelte den Kopf, denn er spürte bereits die Frustration all der Angehörigen der Opfer. Die Fälle waren in Vergessenheit geraten, Gleichgültigkeit und Unfähigkeit hatten ein Übriges getan.
    »Sie werden auch feststellen, dass sich die Methoden geändert haben. Heute sind die Ermittler schlicht und einfach
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