Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vergessene Stimmen

Titel: Vergessene Stimmen
Autoren: Michael Connelly
Vom Netzwerk:
es, als könnte er die Stimmen durch die Tür hören. Alle achttausend.
    Kiz Rider saß auf einem Schreibtisch direkt hinter dem Eingang und nahm gerade einen Schluck aus einer Tasse mit dampfendem Kaffee. Der Schreibtisch sah aus wie der Platz einer Empfangsdame, aber Bosch hatte hier in den vergangenen Wochen relativ häufig angerufen und wusste deshalb, dass es in dieser Abteilung keine Empfangsdame gab. Für derlei Luxus war kein Geld da. Rider hob ihr Handgelenk und sah kopfschüttelnd auf die Uhr.
    »Hatten wir uns nicht auf acht Uhr geeinigt?«, sagte sie. »Ist es das, worauf ich mich gefasst machen muss, Partner? Du kommst jeden Morgen reingeschneit, wann dir gerade danach ist?«
    Bosch sah auf seine Uhr. Es war fünf nach acht. Er blickte wieder zu Rider und grinste. Sie sagte lächelnd: »Wir sind hier drüben.«
    Rider war eine kleine Frau, die ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen hatte. Ihr Haar war kurz und mittlerweile mit etwas Grau durchsetzt. Sie hatte sehr dunkle Haut, was ihr Lächeln um so strahlender machte. Sie rutschte von dem Schreibtisch, holte hinter sich eine zweite Tasse Kaffee hervor und reichte sie Bosch.
    »Mal sehen, ob ich das richtig behalten habe.«
    Er sah in die Tasse und nickte.
    »Schwarz, genau wie ich meine Partner mag.«
    »Sehr witzig. Dafür müsste ich dich melden.«
    Sie ging voran. Das Büro schien leer zu sein. Es war groß, selbst für neun Ermittler – vier Zweierteams und ein Abteilungsleiter. Die Wände waren in einem hellen Blauton gestrichen, wie ihn Bosch oft auf Computermonitoren sah. Der Teppichboden war grau. Fenster gab es keine. Dort, wo Fenster hätten sein sollen, hingen Anschlagtafeln oder schön gerahmte, viele Jahre alte Tatortfotos. Bosch konnte erkennen, dass die Fotografen auf diesen Schwarzweißaufnahmen ihr gestalterisches Können vor ihre klinischen Pflichten gestellt hatten. Die Fotos waren düster und unheilschwanger. Von den Tatortdetails waren nicht viele zu erkennen.
    Rider musste gewusst haben, dass er sich die Fotos ansehen würde.
    »Man hat mir erzählt, der Autor James Ellroy hätte sie ausgesucht und für das Büro rahmen lassen«, sagte sie.
    Sie führte ihn um eine Trennwand, die den Raum unterteilte, in eine Nische, in der zwei graue Metallschreibtische so aneinander geschoben waren, dass sich die Detectives, die an ihnen arbeiteten, gegenübersaßen. Auf einen davon stellte Rider ihre Kaffeetasse. Darauf standen bereits Akten und verschiedene persönliche Gegenstände wie ein Kaffeebecher voller Stifte und ein Bilderrahmen, der allerdings so gestellt war, dass das Foto darin nicht zu sehen war. Ein aufgeklapptes Notebook summte leise. Rider war schon in der vorangegangenen Woche, als Bosch noch zum Zoll gemusst hatte, zu der Einheit gestoßen – mit Zoll waren die ärztliche Untersuchung und die abschließenden Formalitäten gemeint, die für seine Wiedereinstellung erforderlich gewesen waren.
    Der andere Schreibtisch, sauber und leer, wartete auf ihn. Bosch ging dahinter und stellte seinen Kaffee darauf. Er unterdrückte ein Lächeln, so gut er konnte.
    »Willkommen zurück, Roy«, sagte Rider.
    Nun konnte er das Lächeln nicht länger zurückhalten. Es freute Bosch, wieder Roy genannt zu werden. Das war unter den Detectives des Morddezernats ein alter Brauch. Es gab einen legendären Ermittler namens Russell Kuster, der vor Jahren bei der Hollywood Division gewesen war. Er war der absolut Größte gewesen und hatte viele der Detectives, die heute in Los Angeles in Mordfällen ermittelten, irgendwann einmal unter seinen Fittichen gehabt. Er kam 1990 bei einer Schießerei, bei der er nicht mal im Dienst war, ums Leben. Aber seine Angewohnheit, andere Leute – egal, wie sie hießen – Roy zu nennen, wurde beibehalten. Der Grund dafür war in Vergessenheit geraten. Einige behaupteten, Kuster habe einmal einen Partner gehabt, der auf Roy Acuff stand, und damit habe das Ganze angefangen. Andere sagten, Kuster habe die Detectives beim Morddezernat gern als eine Art Roy-Rogers-Verschnitt gesehen, der mit seinem weißen Cowboyhut angeritten kam, um den Bedrängten bei zustehen und alles wieder in Ordnung zu bringen. A ber das spielte schon längst keine Rolle mehr. Bosch wusste, dass es eine Ehre war, wieder Roy genannt zu werden.
    Er setzte sich. Der Stuhl war alt und die Polsterung klumpig. Wenn er zu lange darauf säße, bekäme er garantiert Rückenschmerzen. Aber er hoffte, dazu würde es nicht kommen. Seine erste Dienstzeit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher