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Vergessene Stimmen

Titel: Vergessene Stimmen
Autoren: Michael Connelly
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ein alter Fall. Da besteht kein Anlass, sofort loszulegen, kaum dass was Schriftliches mit der Post ins Haus flattert. Der Dienst in Offen-Ungelöst ist etwas anders.«
    »Ja? Wieso?«
    Rider sah ihn entnervt an, doch bevor sie antworten konnte, hörten sie, wie die Tür aufging und der Bereitschaftsraum sich mit Stimmen füllte. Rider ging aus der Nische, und Bosch folgte ihr. Sie stellte Bosch den anderen Mitgliedern der Einheit vor. Zwei der Detectives, Tim Marcia und Rick Jackson, kannte Bosch von früheren Fällen gut. Die zwei anderen Teams waren Robert Renner und Victor Robleto sowie Kevin Robinson und Jean Nord. Vom Hörensagen kannte Busch sie ebenso wie ihren Chef Abel Pratt. Jeder von ihnen war ein erstklassiger Mordermittler.
    Die Begrüßung war freundlich, aber zurückhaltend, etwas zu förmlich. Bosch war klar, dass seine Zugehörigkeit zu der Einheit wahrscheinlich misstrauisch beäugt wurde, weil es sich dabei um eine bei den Detectives des LAPD äußerst begehrte Stellung handelte. Der Umstand, dass er sie nach fast drei Jahren im Ruhestand erhalten hatte, warf Fragen auf. Wie ihm der Polizeichef eben noch einmal in Erinnerung gerufen hatte, hatte er den Posten Rider zu verdanken, die zuletzt als Beraterin für Öffentlichkeitsarbeit im Büro des Chief gearbeitet hatte. Sie hatte die Pluspunkte, die sie im Lauf der Jahre beim Chief angesammelt hatte, für Boschs Wiedereinstellung eingesetzt, um mit ihm ungelöste Fälle zu bearbeiten.
    Nach dem üblichen Händeschütteln bat Pratt seine zwei Neuzugänge zu einer privaten Begrüßungsansprache in sein Büro. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, und sie nahmen auf den zwei Stühlen davor Platz. Für weiteres Mobiliar war in dem besenkammergroßen Raum kein Platz.
    Pratt war ein paar Jahre jünger als Bosch, knapp unter fünfzig. Er war körperlich fit und hielt den Korpsgeist der renommierten Robbery-Homicide Division hoch, der die Einheit Offen-Ungelöst angegliedert war. Pratt schien großes Vertrauen in seine fachliche Kompetenz und seine Führungsqualitäten zu haben. Das musste er auch. Die RHD übernahm die schwierigsten Fälle der Stadt. Wenn man nicht davon überzeugt war, klüger, abgebrühter und gerissener zu sein als die Leute, hinter denen man her war, hatte man hier nichts verloren.
    »Eigentlich«, begann er, »sollte ich Sie beide trennen. Jeden von Ihnen jemandem zuteilen, der hier bereits eingearbeitet ist. Denn der Dienst hier ist anders als das, was Sie bisher gemacht haben. Aber ich habe aus dem Sechsten entsprechende Anweisungen erhalten und halte mich da deshalb raus. Außerdem, habe ich mir sagen lassen, hat die Chemie zwischen Ihnen früher schon gestimmt. Deshalb will ich vergessen, was ich eigentlich tun sollte, und Ihnen stattdessen nur kurz erklären, was wir hier in Offen-Ungelöst machen. Kiz, Sie haben diesen Sermon zwar schon letzte Woche gehört, aber Sie werden ihn einfach noch mal über sich ergehen lassen müssen, okay?«
    »Kein Problem«, sagte Rider.
    »Zuallererst, erwarten Sie keine Aufklärung. Alles, was wir hier tun, ist Antworten geben. Antworten müssen genügen. Machen Sie sich keine Illusionen darüber, was Sie mit Ihrer Arbeit bewirken können. Machen Sie den Familienangehörigen, mit denen Sie bei diesen Fällen zu tun haben, keine falschen Hoffnungen, und lassen Sie sich von ihnen keine falschen Hoffnungen machen.«
    Er wartete auf eine Reaktion, bekam keine und ging zum nächsten Punkt über. Bosch merkte, dass auf dem gerahmten Tatortfoto an der Wand ein Mann zu sehen war, der in einer von Kugeln durchsiebten Telefonzelle zusammengebrochen war. Es war eine dieser Telefonzellen, wie man sie nur noch in alten Filmen sah, oder auf dem Farmers Market oder drüben bei Phillippe’s.
    »Es gibt überhaupt keinen Zweifel«, sagte Pratt. »Diese Einheit ist der hehrste Ort in diesem Gebäude. Eine Stadt, die ihre Mordopfer vergisst, ist eine verlorene Stadt. Das hier ist der Ort, an dem wir nicht vergessen. Wir sind wie die Typen, die am Ende des neunten Innings auf den Platz kommen, um das Spiel noch mal zu drehen. Wenn wir es nicht schaffen, schafft es niemand. Wenn wir versagen, ist das Spiel gelaufen, weil wir die letzte Rettung sind. Ja, wir sind zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Wir haben seit 1960 achttausend ungelöste Fälle. Aber wir lassen uns nicht entmutigen. Selbst wenn diese Einheit nur einen Fall pro Monat löst – zwölf im Jahr –, bewirken wir dennoch etwas. Wenn man beim
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