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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz
Autoren: Nina Blazon
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der blutmann
    I n den Nächten, die dem Blutmann gehörten, wagte Summer kein zweites Mal einzuschlafen. Je mehr sie sich fürchtete, desto öfter suchte er sie heim. Nie sah sie sein Gesicht, nur seine Hände nahm sie wahr. Allerdings konnte sie lediglich erahnen, wie kräftig sie waren. Schwarze Handschuhe, gegerbt von Blut, verbargen sie. Doch aus der Spannung der Finger, die den Schwertgriff umklammerten, sprach eine Entschlossenheit, die sie schaudern machte. Aus den Augenwinkeln nahm sie den dunklen Glanz des Schwertes wahr: schmal und scharf genug, um einen Kopf ohne viel Kraftaufwand vom Körper zu trennen. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie das Pochen ihres Blutes in ihren zusammengepressten Lippen spüren konnte. Sie schloss kurz die Augen und ergab sich dem verstörenden Geruch nach Metall und der Erkenntnis, dass Lady Tod sie schon mit eisenkaltem Mund auf den Nacken küsste. Zart berührte die Schneide ihre Haut und hob sich dann leicht, wie Atem holend. Der Schatten der Waffe schwebte vor ihr auf dem Boden, entfernte sich, je höher der Blutmann das Schwert hob. Summer krümmte sich und spürte, wie ihre Knie sich noch fester in die feuchte, halb gefrorene Erde drückten. Weißer Atem legte einen Schleier vor ihre Augen. Erst am tiefsten Punkt ihres Atems lichtete er sich und ließ die Welt wieder grausam klar werden. Als sie
blinzelte, erkannte sie, dass das gleißende schräge Winterlicht auf ihre bloßen Arme fiel. Benommen betrachtete sie die noch frischen Fesselspuren, tiefe Rillen, ein grotesker roter Schmuck, der sich um ihre Handgelenke wand.
     
    Das war jedes Mal der Moment, in dem sie sich losriss: Sie holte keuchend Luft, kämpfte sich aus dem Schlaf hoch und floh in die schützende Dunkelheit der Wirklichkeit, floh aus dem Bett, auf bloßen Füßen durch das Zwielicht der Nacht zu dem Waschbecken neben der Tür. Erst als sie kaltes Wasser im Gesicht spürte, ließ die Angst ein wenig nach. Benommen trat sie dann auf den schmalen Balkon, der hoch über dem Ozean der Stadtlichter dahintrieb. Dort betastete sie immer und immer wieder ihre Handgelenke und vergewisserte sich, dass sie makellos waren - ohne Wunden und auch ohne alte Narben.
    Niemals hatten Fesseln diese Haut berührt.

theater der nacht
    M it den Raubkatzen war in dieser Nacht nicht zu spaßen; die Dompteure hatten alle Hände voll zu tun. Ein gutes Zeichen, denn es bedeutete nicht nur, dass der Zuschauerraum voll war, sondern auch, dass vor und hinter den Kulissen eine besondere Anspannung herrschte. Es war gut für das Stück, das vor allem vom Auftritt der Tiere lebte, und gut für das Spiel der menschlichen Darsteller. Denn jetzt, in den ungewöhnlich heißen Tagen eines schläfrigen Herbstes, drohte sich auch bei der Theatertruppe eine gewisse Trägheit einzuschleichen.
    »Ist er endlich da?«, flüsterte Mort Summer zu. Obwohl der alte Theaterdirektor versuchte, seine Nervosität zu verbergen, musste Summer nur auf seine vernarbten Hände schauen, um zu wissen, wie ihm zumute war: Schmerzhaft straff lag die Haut über jeder Knöchelwölbung und jeder Sehne, so fest umklammerte er die Peitsche und den Schlangenstock.
    Summer wandte rasch den Blick von seinen Händen ab und trat zu dem Sichtspalt im Vorhang. Inzwischen war die Stimmung da draußen auf eine fast aggressive Art angeheizt - ein Funkenregen von Emotionen, der Summer einhüllte wie ein warmer Mantel. Die Lücke im Vorhang gab den Blick auf die mittleren Zuschauerreihen frei. Noch war die Beleuchtung hell genug, dass Summer
die Besucher gut erkennen konnte - es waren viele Stadtgesichter, glatt, weißhäutig, die Männer sorgfältig rasiert, die Frauen mit hell gepuderter Haut. Der betont gleichgültige Gesichtsausdruck ließ sie einander ähnlich werden wie Geschwister. Aber es drängten sich auch viele Fremde im Theater, die in diesen Tagen zum ersten (und vielleicht zum letzten) Mal eine so große Stadt wie Maymara kennenlernen durften. Seit einigen Wochen schon überschwemmten sie die Stadt: Abenteurer, Verlorene oder einfach Leute, die sich von den Gerüchten über irgendeinen fernen Krieg hatten zur Küste locken lassen. Diese Gäste verrieten sich allein schon durch die Art, sich neugierig den Hals zu verrenken und ständig ihre Nebensitzer in die Rippen zu stoßen, um sie auf Besonderheiten aufmerksam zu machen - auf das riesenhafte Halbrund der Bühne, die von einem Sonnensymbol gekrönt wurde, und die beiden Nebenbühnen an den Seiten, deren einziger
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