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Vergessene Stimmen

Titel: Vergessene Stimmen
Autoren: Michael Connelly
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besser als, sagen wir, 1960 oder 1970. Sogar 1980. Schon bevor Sie also zu den konkreten Beweismitteln kommen und die Fälle neu aufrollen, werden Sie Dinge sehen, die Ihnen heute offensichtlich erscheinen, doch damals, zum Zeitpunkt der Tat, waren sie für niemanden ersichtlich.«
    Pratt nickte. Seine Rede war zu Ende.
    »Und jetzt zu dem kalten Treffer.« Er schob den verblichenen blauen Ordner über den Schreibtisch. »Nehmen Sie sich diesen Fall vor. Er gehört jetzt ganz Ihnen. Lösen Sie ihn und bringen Sie jemanden hinter Gitter.«

 
     
     
     
     
     
     
     
     
    3
    Nachdem sie Pratts Büro verlassen hatten, beschlossen sie, dass Bosch die nächste Runde Kaffee holen würde, während sich Rider schon einmal die Mordakte vornähme. Sie war die schnellere Leserin, und sich die Akte zu teilen war wenig sinnvoll. Sie mussten sie beide von vorne bis hinten lesen, um das Ermittlungsverfahren so linear vor sich zu haben, wie es abgelaufen und dokumentiert worden war.
    Bosch sagte, er würde ihr zu einem ordentlichen Vorsprung verhelfen und vielleicht in der Cafeteria eine Tasse Kaffee trinken, und zwar nur, weil er diesen Ort vermisst hatte. Den Ort, nicht den Kaffee.
    »Dann habe ich also auch noch ein paar Minuten Zeit für einen kleinen Ausflug den Flur runter«, sagte Rider.
    Als sie auf die Toilette ging, nahm Bosch das Blatt, auf dem die ihnen zugeteilten Jahre standen, und steckte es in die Innentasche seines Sakkos. Dann verließ auch er das Büro, fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock hinunter und ging durch den Hauptbereitschaftsraum der RHD zum Büro des Captain.
    Das Büro des Captain bestand aus zwei Zimmern. Eines davon war sein eigentliches Büro, das andere hieß das Mordzimmer. Dort gab es einen langen Konferenztisch, an dem die Mordfälle besprochen wurden. Die Regale an den beiden Seitenwänden waren voll mit juristischen Fachbüchern und den Mordregistern der Stadt. Jeder Mord, der in den letzten hundert Jahren in Los Angeles begangen worden war, war in diesen ledergebundenen Registern eingetragen. Schon seit Jahrzehnten war es üblich, die Register jedes Mal, wenn einer der Morde darin aufgeklärt wurde, auf den neuesten Stand zu bringen. Mit ihrer Hilfe ließ sich am einfachsten feststellen, welche Fälle noch offen und welche bereits abgeschlossen waren.
    Bosch fuhr mit dem Finger über die rissigen Buchrücken. Auf jedem stand einfach MORDE, gefolgt von der Angabe der Jahre, die der Band abdeckte. In den frühen Bänden hatten immer mehrere Jahre Platz gefunden. Ab 1980 waren in der Stadt jedoch so viele Morde begangen worden, dass ein Band nur noch ein einziges Jahr umfasste, und das Jahr 1988, stellte Bosch fest, hatte schließlich nur noch in zwei Bänden Platz gefunden. Plötzlich konnte er sich vorstellen, warum dieses Jahr ihm und Rider, den beiden Neuzugängen in Offen-Ungelöst, zugeteilt worden war. Der Höchstwert für Morde in der Stadt ging sicher mit dem Höchstwert für ungelöste Fälle einher.
    Als er den Band mit den Fällen von 1972 fand, zog er ihn heraus und setzte sich damit an den Tisch. Er blätterte darin, überflog die Geschichten, hörte die Stimmen. Er fand die alte Frau, die in der Badewanne ertrunken war. Der Mord war nie aufgeklärt worden. Er machte mit den Jahren 1973 und 1974 weiter, dann nahm er sich den Band vor, der 1966, 1967 und 1968 enthielt. Er las von Charles Manson und Robert Kennedy. Er las von Menschen, deren Namen er nie gehört hatte. Namen, die diesen Menschen zusammen mit allem anderen genommen worden waren, mit dem, was sie gehabt hatten oder jemals hätten haben können.
    Als er die Kataloge mit den Schrecken der Stadt studierte, spürte Bosch, wie eine vertraute Kraft von ihm Besitz ergriff und durch seine Adern zu strömen begann. Gerade mal eine Stunde im Polizeidienst zurück, und schon jagte er wieder einen Mörder. Es spielte keine Rolle, vor wie langer Zeit das Blut vergossen worden war. Da war ein Mörder auf freiem Fuß, und Bosch war im Anmarsch. Wie der heimgekehrte verlorene Sohn war er wieder da, wo er hingehörte. Er wurde erneut im Wasser der einzig wahren Kirche getauft. Der Kirche der blauen Religion. Und er würde seine Erlösung in denen finden, die lange verschollen gewesen waren, in diesen modrigen Bibeln, in denen die Toten tabellarisch aufgeführt waren und in denen es auf jeder Seite Geister gab.
    »Harry Bosch!«
    Irritiert über die Störung, schlug Bosch die Akte zu und schaute auf. Im Türrahmen des
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