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Vergessene Stimmen

Titel: Vergessene Stimmen
Autoren: Michael Connelly
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angrenzenden Büros stand Captain Gabe Norona.
    »Captain.«
    »Schön, dass Sie wieder bei uns sind!«
    Norona kam auf Bosch zu und schüttelte ihm energisch die Hand.
    »Schön, wieder dabei zu sein.«
    »Wie ich sehe, hat man Ihnen auch schon eine Hausaufgabe aufgebrummt.«
    Bosch nickte.
    »Ich fange schon mal an, mich damit vertraut zu machen.«
    »Neue Hoffnung für die Toten. Harry Bosch schlägt wieder zu.«
    Bosch sagte nichts. Er wusste nicht, ob das sarkastisch gemeint war oder nicht.
    »Das ist der Titel eines Buchs, das ich mal gelesen habe«, sagte Norona.
    »Tatsächlich?«
    »Dann mal viel Glück. Lochen Sie sie ein.«
    »Das hatte ich vor.«
    Der Captain schüttelte ihm noch einmal die Hand, dann verschwand er in sein Büro und schloss die Tür.
    Nachdem sein heiliger Moment durch die Störung verdorben war, stand Bosch auf. Er begann, die schweren Mordkataloge ins Regal zurückzustellen. Als er fertig war, verließ er das Büro und ging in die Cafeteria.

 
     
     
     
     
     
     
     
     
    4
    Kiz Rider hatte die Mordakte fast zur Hälfte durch, als Bosch mit der neuen Runde Kaffee zurückkam. Sie nahm ihm ihre Tasse aus der Hand.
    »Danke. Das brauche ich jetzt, um wach zu bleiben.«
    »Wie bitte? Willst du mir etwa erzählen, das hier ist langweiliger als irgendwelcher Papierkram im Büro des Chief?«
    »Nein, so hab ich das nicht gemeint. Ich muss nur so viel nachholen, so viel lesen. Wir müssen diese Akte in- und auswendig kennen. Wir müssen alle Möglichkeiten präsent haben.«
    Bosch merkte, dass sie neben der Akte einen Block liegen hatte, dessen oberstes Blatt fast vollständig mit Notizen beschrieben war. Er konnte ihre Notizen nicht lesen, sah aber, dass hinter fast jeder Zeile ein Fragezeichen stand.
    »Außerdem benutze ich jetzt andere Muskeln«, fügte sie hinzu. »Muskeln, die ich im sechsten Stock nicht gebraucht habe.«
    »Ach so. Einverstanden, wenn ich jetzt einsteige?«
    »Bitte sehr.«
    Sie ließ die Bügel des Ordners aufschnappen und nahm den fünf Zentimeter dicken Packen Dokumente heraus, den sie bereits durchgesehen hatte. Sie reichte ihn Bosch, der inzwischen an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.
    »Hast du noch so einen Block übrig?«, fragte er. »Ich habe nur ein kleines Notizbuch.«
    Sie seufzte übertrieben genervt. Das war alles nicht ernst gemeint. In Wirklichkeit freute sie sich, dass sie wieder zusammenarbeiteten. Sie hatte die letzten zwei Jahre für den neuen Polizeichef hauptsächlich interne Richtlinien und Notmaßnahmen evaluiert. Es war nicht der theoretische Kram, was sie am besten konnte. Es war das hier.
    Sie schob ihm einen Block zu.
    »Brauchst du etwa auch noch einen Stift?«
    »Nein, ich glaube, das schaffe ich schon.«
    Er legte die Dokumente vor sich hin und begann zu lesen. Er konnte es kaum erwarten, und er brauchte keinen Kaffee, um auf Touren zu bleiben.
     
    Die erste Seite war eine Farbfotografie, die in einer Klarsichthülle steckte. Es war ein Jahrbuchfoto eines attraktiven jungen Mädchens mit mandelförmigen Augen, die sich erstaunlich grün von ihrer milchkaffeebraunen Haut abhoben. Sie hatte dicht gekräuseltes braunes Haar mit natürlich aussehenden blonden Highlights, in denen sich das Blitzlicht der Kamera brach. Ihre Augen waren strahlend, und ihr Lächeln war ungekünstelt. Es war ein Grinsen, das zum Ausdruck brachte, dass sie Dinge wusste, die sonst niemand wusste. Bosch fand nicht, dass sie schön war. Noch nicht. Ihre Züge schienen auf eine unkoordinierte Weise miteinander zu wetteifern. Aber ihm war bewusst, dass aus den unausgewogenen Gesichtszügen von Teenagern häufig später Schönheit wurde.
    Doch für die 16-jährige Rebecca Lost gab es kein Später. 1988 sollte ihr letztes Jahr werden. Der kalte Treffer gehörte zu ihrer Ermordung.
    Becky, wie sie von Familienangehörigen und Freunden genannt wurde, war das einzige Kind von Robert und Muriel Lost. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Koch und Inhaber des Island House Grill, eines gutgehenden Restaurants in Malibu. Wohnhaft waren sie im Red Mesa Way an der Santa Susana Pass Road in Chatsworth, das in der Nordwestecke der wuchernden Stadtlandschaft lag, die Los Angeles ausmachte. Der Garten hinter dem Haus der Losts ging in einen bewaldeten Hang des Oat Mountain über, der sich über Chatsworth erhob und die Nordwestgrenze der Stadt bildete. Becky hatte in besagtem Sommer an der Hillside Preparatory School, einer Privatschule im nahen Porter Ranch, die zehnte
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