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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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definitiv ein Zittern voller Hoffnung … Das Entsetzen über dieses Gefühl jagte ihm einen Schauder über den Rücken. Er hatte gerade eine Frau getötet, eine Frau, die er zu lieben geglaubt hatte. Eigentlich hätte er am Boden zerstört sein müssen. Und das war er auch, wenn auch vielleicht weniger dramatisch und sichtbar, als er es gern gehabt hätte. Aber zugleich wollte er leben. Er wollte auf dieser Buckelpiste mitten durch eine Wüste voller Ruinen bis dorthin weiterfahren, wo Minerva auf ihn wartete. Er wollte zu ihr und mit eigenen Augen sehen, dass sie real war, dass das Phantom, das er in all den Jahren um ihren Namen herum geschaffen hatte, sich wie durch Zauberei in eine Frau aus Fleisch und Blut verwandelte. Er konnte diesen Moment kaum erwarten … Es war geschmacklos, aber was er empfand, erinnerte stark an Aufregung, vielleicht sogar an Freude.



Plötzlich wurden alle seine Sinne in Alarmzustand versetzt. An das laute Rattern der Räder auf dem Boden hatte er sich bereits gewöhnt, aber nun kam aus einiger Entfernung ein anderes Geräusch dazu, das man für ein Echo des ersten halten konnte. Er aktivierte den virtuellen Rückspiegel: Tatsächlich konnte er ein schwaches Licht ausmachen, das sich in der Ferne nicht zu bewegen schien, nicht näherkam, sich aber auch nicht entfernte. Das konnte nur eins bedeuten: Ein weiterer Gleiter fuhr dieselbe Strecke wie er.
    Jason fluchte und schaltete fast instinktiv das Rücklicht aus. Es war schon ein bisschen her, dass er so ein Fahrzeug von Hand gesteuert hatte, aber mit sechzehn oder siebzehn war er darin richtig gut gewesen, schließlich hatte er auf der Junior-Rennstrecke trainiert und das war auch im Fernsehen übertragen worden. Er vertraute einfach darauf, dass er nicht alles vergessen hatte.
    Er stellte den Autopilot ab und zog dann mit viel Gefühl am Schalthebel. Alice’ Gleiter war nicht viel anders als sein eigener: Alle diese Maschinen arbeiteten nach demselben Prinzip. So fiel es ihm nicht allzu schwer, Kontrolle über die Gangschaltung zu gewinnen. Er warf erneut einen Blick ins Rückdisplay. Das Fahrzeug hinter ihm hatte das Tempo gedrosselt und sich an seine eigene Geschwindigkeit angepasst. Möglicherweise folgte es ihm absichtlich. Vielleicht eine Polizeistreife oder der Wagen des privaten Sicherheitsdienstes irgendeines Produzenten …
    Mit einer weichen Kurve verließ Jason die alte Asphaltpiste und steuerte sein Fahrzeug über die brachliegende Erde auf ein Wäldchen zu, dessen dunkle Baumwipfel sich vorm Sternenhimmel abzeichneten. Bei den ersten Bäumen stellte er den Motor ab. Zum ersten Mal in seinem Leben hörte er die Blätter im Wind rascheln. Manchmal rauschten sie wie eine Welle, die dann langsam leiser wurde und zu einem kaum hörbaren Säuseln abflaute.
    Er hörte das andere Fahrzeug näherkommen. Es fuhr in konstantem Tempo auf der alten Straße vorbei und wirbelte eine weiße Staubfahne hinter sich auf. Seine Insassen hatten Jasons Manöver anscheinend nicht bemerkt; wenn doch, war er ihnen offensichtlich egal.
    Jason ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken und sog tief Luft ein, bis seine Lunge zum Bersten gefüllt war. Er hatte Angst gehabt. Da wurde ihm klar, dass er dieses Abenteuer unbedingt fortsetzen und am Ende des Weges ankommen wollte, den Minerva für ihn vorgezeichnet hatte. Denn er hatte sich nicht vor der geheimnisvollen Wüste um ihn herum gefürchtet oder vor der Vorstellung, für immer darin leben zu müssen. Nein, er hatte Angst, wieder zurückzumüssen. Selbst wenn er davon ausging, dass er in einem TV-Prozess von seinem Verbrechen freigesprochen würde (die Kameras hatten sicher festgehalten, dass er in Notwehr gehandelt hatte), schreckte ihn der Gedanke, zu seiner alten Routine zurückzukehren. Ohne Minerva hatte dieses Leben auch noch das letzte bisschen Sinn verloren. Er lächelte traurig, als er darüber nachdachte: Um weiter in der transparenten Stadt leben zu können, brauchte er nicht Alice, sondern die Phantomfrau, die sein Leben schrieb.
    Er wartete noch eine halbe Stunde. In dieser Zeit fuhr kein anderer Gleiter auf der Straße vorbei. Das Wäldchen, in dem er sich versteckt hatte, überschüttete ihn mit völlig neuartigen Eindrücken: ab und zu der nächtliche Ruf eines Vogels, das gelegentliche Knacken eines Asts, Säuseln, Zischen, kurze gedämpfte Laute von ungewisser Herkunft … Und ein Geruch nach Harz und feuchter Erde, der ihn an die herbe Note allzu intensiver männlicher Düfte
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