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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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erinnerte.
    Fast mit Bedauern aktivierte er schließlich die Handsteuerung und ließ den Motor an. Er stellte sich den roten Funkenregen vor, der hinten aus den Auspuffrohren schoss und in der stockdunklen Nacht vielleicht an einen verglühenden Meteoriten erinnerte. Langsam fuhr er zur Straße zurück und wechselte dort in den automatischen Fahrmodus. Aus den Augenwinkeln sah er zum Navigationssystem. In der rechten Ecke des Displays leuchteten die Koordinaten des von ihm eingegebenen Ziels in phosphoreszierendem Blau, in der linken wurde wahrscheinlich seine aktuelle Position angezeigt. Er musste nur auf das Display tippen, um die Fahrzeit zwischen den beiden Punkten berechnen zu lassen, aber eigentlich wollte er gar nicht wissen, wie lange seine Reise noch dauern würde; er wollte lieber das sonderbar prickelnde Gefühl genießen, nicht zu wissen, wo er war.
    Ein paarmal sah Jason nach seinem Telefon, fand jedoch keine neuen Nachrichten von Minerva. Das überraschte ihn nicht besonders. Sie hatte alles gesagt, was sie zu sagen hatte, und jetzt wartete sie auf ihn. Voller Vertrauen. Sie wusste, dass ein Wort von ihr genügte, damit er sich auf den Weg machte.
    Ganz allmählich wurde der Himmel im Osten heller. Zuerst war nur ein schmaler violetter Streifen zu sehen, der nach und nach in verwaschenes Grau überging. Gegen diese Helligkeit zeichneten sich scharf wie mit Tusche gezeichnet die Umrisse der Herbstbäume ab. Dahinter waren die unregelmäßigen Zacken einer fernen Bergkette zu erahnen.
    Jason hatte noch nie einen Sonnenaufgang erlebt. Mit offenem Panoramadach genoss er das warme, goldene Licht. Er hatte die Augen geschlossen und seine Mundwinkel zeigten nach oben, was fast nach einem Lächeln aussah. Vielleicht war es das tatsächlich …
    Er merkte nicht, wie er einschlief. Ganz allmählich glitt er in die Bewusstlosigkeit ab, als wäre der Schlaf das am Horizont aufsteigende Meer aus Licht, dem er sich Stück für Stück näherte, um darin einzutauchen.
    Das Kitzeln eines Insekts am Hals holte ihn kurz in die Wirklichkeit zurück. Er verscheuchte es und schlief weiter. Der Gleiter fuhr eine alte, verlassene Autobahn entlang, die parallel zu den Bergen verlief, mitten durch feuchte, bläulich schimmernde Wiesen.
    Das Nächste, was er sah, waren kupferrote Locken, die wie eine Kaskade auf ihn herabfielen und ihn an der Wange kitzelten. Als es ihm gelang, den noch schlaftrunkenen Blick besser zu fokussieren, entdeckte er, dass die Locken zu einem blassen, ovalen Gesicht mit sehr feinen Zügen gehörten. Das Schönste an diesem Gesicht waren die Augen: zwei tiefe blaugrüne Seen, die ihn äußerst besorgt ansahen.
    Als sich ihre Blicke trafen, bekamen diese Augen sofort einen anderen Ausdruck. Plötzlich leuchteten sie voller Freude.
    »Minerva«, stieß er hervor. »Minerva, endlich bist du da …«
    Er brach in Tränen aus. Zehn Minuten lang weinte er wie ein Kind. Minerva versuchte nicht ihn zu trösten. Durch die Tränen hindurch bemerkte Jason ihre heitere, nachdenkliche Miene. Was er hinter ihr sah, verwirrte ihn zunächst. Ein altes, weiß gekalktes Haus. Tiefblauer Himmel. Knorrige Bäume, deren grüne Blätter seltsam silbrig schimmerten. Weitere Häuser, die sich einen dunklen Abhang hinaufzogen. Büsche. Sonnenschirme. Ein fernes Rauschen, vielleicht das Meer.
    Plötzlich fiel ein Schatten auf Minerva. Eine weibliche Gestalt mit ähnlicher Statur, vielleicht ein wenig zierlicher, war hinter die Drehbuchautorin getreten und hatte ihr die rechte Hand auf die Schulter gelegt. Diese Geste verriet eine Vertrautheit, die Jason überraschte, aber auch Gelöstheit oder vielleicht unbeschreibliche Müdigkeit.
    »Ist er aufgewacht?«, fragte eine Stimme, die er gut kannte.
    Über Minervas Schulter tauchte das kindliche, schmale Gesicht von Alice auf.



EPILOG
    Die Abenddämmerung brach herein, die erste in Jasons neuem Leben außerhalb der Grenzen der transparenten Welt. Der Garten, der zu Minervas Haus gehörte, fiel zum Meer hin sanft ab. Im Schatten einer mit rostroten Ranken überwucherten Pergola tranken Jason und Minerva schweigend Tee. Alice war hinaufgegangen, um ihre Sachen zu packen. Die Augen fest aufs tiefblaue Meer gerichtet, ließ Jason sich noch einmal durch den Kopf gehen, was die beiden Frauen ihm nach seiner Ankunft erklärt hatten. Alles hatte mit Alice angefangen. Der Produzent hatte ihr ein besonderes Drehbuch geschickt, das nicht aus Minervas Feder stammte. Darin starb Jason und sie
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