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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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erfahren, wie es in Alice aussah. Gut, darüber brauchte er sich jetzt keine Gedanken mehr zu machen. Alice war tot. Er hatte sie getötet und irgendwie hatte er sich dadurch selbst gezwungen, endlich die Augen zu öffnen und sich zu sehen, wie er wirklich war: eine leere Maske ohne Zukunft, eine Marionette mit durchtrennten Fäden, die krampfhaft versuchte, sich wie ein lebendiger Mensch zu bewegen, obwohl das längst nicht mehr möglich war.
    Ein wenig beklommen richtete er den Blick auf die Glastürme, die nun immer vereinzelter auftauchten, auf die dunklen Leerstellen, die sich seit einer Weile zwischen die Gebäude schoben. Allmählich erreichte er den Stadtrand, war gefährlich nah an der Grenze, die seine transparente Welt vom Rest trennte. Bisher hatte Jason die Stadt kaum einmal verlassen. Und selbst auf dem Weg zu diesen kleinen touristischen Bastionen hatte man immer noch das Gefühl, in der transparenten Stadt zu sein. Das war diesmal anders. Die Koordinaten, die er auf Minervas Anweisung hin in das Bordnavigationssystem eingegeben hatte, führten ihn direkt auf die Grenze zu. Er hatte von ihr gehört, sie aber nie gesehen. Vielleicht wollte Minerva, dass er sie überschritt …
    Er bekam Angst und das brachte ihn dazu, bitter über sich selbst zu lachen. Es war so lächerlich, in dieser Nacht Angst zu haben! Er hatte gerade alles verloren. Er hatte jemanden getötet. Was spielte es da für eine Rolle, wohin diese verfluchte Karre ihn brachte? Vorhin hatte er sich noch der Polizei stellen wollen. Wenn er das getan hätte, wäre er in irgendein privat geführtes Gefängnis gesteckt worden, einen der schlimmsten Orte, an dem man überhaupt landen konnte. Verglichen damit war das hier ein Sonntagsausflug. Man hörte viele Geschichten über das Gebiet jenseits der Grenze, Geschichten von unendlichen Wüsten und undurchdringlichen Wäldern, aber selbst wenn sie alle wahr waren – was machte das schon? Sein Leben war vorbei. Er wollte nicht einmal mehr weiterleben. Die Angst war nur noch ein absurder Instinkt, ein alberner Trick seines Gehirns, der ihn daran erinnerte, dass er noch nicht ganz tot war.
    Gegen zwei Uhr nachts erreichte er die Spiegelmauer. Sie war noch schöner und schrecklicher, als er sie sich vorgestellt hatte. Er wusste, dass es sich um eine holografische Projektion ohne die geringste materielle Konsistenz handelte und dass er mit dem Gleiter mit voller Kraft darauf zusteuern konnte, ohne Gefahr, an ihr zu zerschellen. Das Fahrzeug brauchte nur eine spezielle Zulassung (das hatte Minerva sicherlich überprüft), dann würde er auf die andere Seite gelangen. Sonst würde er in einem Magnetfeld hängenbleiben und die Roboterfahrzeuge der Polizei würden ihn bald ausfindig machen.
    Er beschleunigte manuell, um die Mauer zu durchbrechen. Ein dichtes, sich gummiartig dehnendes Leuchten drang in die Kabine, warf phosphoreszierende Strahlen auf das Steuerpult wie ein Gespinst aus Licht. Jason schloss die Augen und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Er wiederholte Minervas Namen wie ein Schutzmantra, einen Abwehrzauber gegen die Gefahren des Unbekannten.



Plötzlich wurde es dunkel und der Gleiter setzte hart auf dem Boden auf. Offenbar hatten sich die Noträder ausgefahren; hinter der Spiegelwand gab es keine Magnetschwebestraßen, die einen Gleiter auf dem Boden in seiner Spur hielten. Jason hatte noch nie erlebt, wie heftig der Körper in einem Fahrzeug geschüttelt wird, das auf Rädern rollt. Das permanente Gerüttel erinnerte ihn an die Fahrten in einem Vergnügungspark, den er als Kind einmal besucht hatte. Ihm wurde schlecht, und er dachte schon, er müsste sich übergeben, doch nach und nach stellte sich sein Körper auf diese neue, wilde Art der Fortbewegung ein, bis er sie nach einer Weile gar nicht mehr bemerkte.
    Um ihn herum lag die Nacht über der Ebene wie der Schatten eines Riesenvogels. Rechts und links von der holprigen Straße reihte sich eine Ruine an die andere, Überreste von Gebäuden aus der Vergangenheit, die niemanden mehr interessierten. Ein Tier, das an eine Katze erinnerte, huschte durchs Scheinwerferlicht und wurde fast sofort wieder von der Dunkelheit verschluckt.
    Da dachte Jason zum ersten Mal seit dem Telefonat an Minerva und etwas in ihm zitterte wie ein verängstigtes Vögelchen. Es war wie das warme Zittern von zerzausten Federn an einem kalten Frühlingsmorgen; das ungeschickte Zittern von Flügeln, die nie gelernt hatten zu fliegen. Aber es war
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