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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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die Umgebung, die schlichte, gekalkte Fassade von Minervas Haus, die kleinen weißen, über die Berghänge verstreuten Gebäude und den hufeisenförmigen Strand weiter unten, der vom Schaum der Wellen gesäumt wurde.



»Meinst du, dass sie nach uns suchen?«, fragte er leise.
    Minerva setzte ihre Teetasse ab, bevor sie antwortete.
    »Das glaube ich nicht.« Sie klang nachdenklich. »Das täten sie nur, wenn wir zurückgehen. Wenn wir versuchen, andere darüber zu informieren, was vor sich geht.«
    »Vielleicht sollten wir das. Ich weiß nicht, ob ich all diesen Leuten so einfach den Rücken kehren kann. Es ist zwar riskant, aber vielleicht sollten wir darüber nachdenken.«
    »Noch nicht«, unterbrach Minerva ihn entschieden. »Zuerst musst du lernen zu leben, so, wie du gesagt hast. Das wird nicht leicht werden, Jason. Hier gibt es kein Skript. Das Leben ist einfach und hart, man muss die Zukunft jede Minute neu erfinden.«
    In diesem Moment ging die Hintertür des Hauses. Beide drehten sich um. Auf dem Sandpfad kam Alice mit einem schweren Koffer auf sie zu.
    »Ich muss mich jetzt verabschieden«, sagte sie ernst. »Ich will vor morgen Mittag an der Westküste sein. Jason, ich weiß nicht, was ich dir sagen soll.«
    Sie sahen sich stumm an – ein intensiver, aufrichtiger Blick, in dem viel mehr Bedeutung lag als in all den Blicken, die sie vor der Kamera getauscht hatten.
    »Verzeih mir für alles, Alice«, sagte Jason verlegen lächelnd. »Verzeih mir, dass ich nichts verstanden habe …«
    Sie zuckte mit den Schultern.
    »Ich muss dich auch um Verzeihung bitten. Ich wollte dir nie wehtun. Oder dir etwas vormachen. Aber das war nicht mein Leben, Jason. Das waren nicht meine Gefühle. Ich hoffe, das verstehst du.«
    »Und trotz allem hast du mir das Leben gerettet.«
    »Dass ich nicht in dich verliebt bin, heißt ja noch nicht, dass ich deinen Tod will«, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. »Tja, jetzt haben wir, was wir wollten. Ich zumindest.«
    »Bist du sicher, dass du schon starten willst?«, fragte Minerva. »Es ist eine lange Reise und du hast kaum Zeit gehabt, dich von der Flucht zu erholen.«
    Vor seinem inneren Auge sah Jason wieder den dunklen Gleiter, der ihm auf der Straße gefolgt war. Jetzt wusste er, dass Alice darin gesessen hatte. Er musste lächeln, als er sich an seine Angst, sein schlechtes Gewissen und seinen Wunsch erinnerte, mit dem Leben davonzukommen.
    »Das ist schon in Ordnung«, sagte Alice. »Ich habe ein altes Foto vom Dorf gesehen. Es sieht aus wie das hier, aber es ist noch ursprünglicher. Und es hat einen großen Vorteil: Dort kenne ich niemanden.«
    »Das heißt wirklich bei null anfangen.« Minerva sah sie voller Achtung an, fast bewundernd.
    »Wir bleiben doch in Kontakt?«, sagte Jason vorsichtig. »Ich schicke dir eine Nachricht, dann können wir uns schreiben.«
    Alice beugte sich zu ihm hinunter, um ihm einen zarten Abschiedskuss auf die Wange zu drücken.
    »Nein, Jason«, erwiderte sie. »Du wirst nichts mehr von mir hören. All das ist vorbei. Hier draußen gibt es kein Internet, keine Holotelefonie, keine Sofortnachrichten. Theoretisch könnten wir all das benutzen, aber es wäre nicht gut. Wir sind jetzt Geächtete und je weniger sie in der transparenten Stadt von uns wissen, desto besser.«
    »Dann ist es ein Abschied für immer …«
    Alice machte eine zweideutige Kopfbewegung.
    »Vielleicht.«
    Ein blasses Lächeln umspielte ihren Mund.
    »Ich wünsche dir Glück, Jason«, fügte sie hinzu. »Danke für alles, Minerva. Euch beiden alles Gute.«
    Sie beobachteten, wie Alice auf dem Sandpfad zur Garage des Hauses ging. Kurz darauf hörten sie den Motor des Gleiters aufheulen. Der Lärm hallte an den Wänden des Raums wider und ebbte dann plötzlich ab. In der Ferne leuchtete ein langer Lichtschweif auf, der wie ein Pfeil auf die Berge zeigte.
    »Es wird ihr gut gehen«, seufzte Minerva. »Sie ist die stärkste Frau, die ich kenne.«
    »Stärker als du?«, fragte Jason.
    »Stärker als du und ich zusammen. Es ist ein Jammer, dass du sie nie näher kennengelernt hast. Du wärst überrascht gewesen.«
    Jason dachte an all die Male, die er Alice in den Armen gehalten hatte, an die Stunden, die er damit verbracht hatte, an sie zu denken, von ihr zu träumen. Und doch hatte Minerva recht. Er hatte sie nicht gekannt. Er hatte nur den Hauch einer Ahnung davon, wie sie wirklich war.
    »Ich sollte mich vielleicht auch auf den Weg machen«, sagte er bedrückt. »Ich
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