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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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steht auf der Gemeinschaftsterrasse, der Zugang ist im Treppenhaus, du wirst ihn sofort erkennen. Gib die Koordinaten vom Kompass ein.«
    »Vom Kompass?«, wiederholte Jason wie ein Echo.
    »Ja, von dem Holobild, das Tinkerbell dir aus dem Wohnhaus-Studio der Lyriker geschickt hat. Auf dem Deckel sind Geo-Koordinaten graviert. Gib sie in den GPS-Browser ein. Sie werden dich zu mir bringen. Hab Mut, Jason. Bald ist der Albtraum zu Ende.«
    Jason schloss die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Auf seiner Stirn standen Falten. »Du verstehst es nicht, Minerva«, sagte er fast flüsternd. »Du verstehst es nicht … Der Albtraum hat gerade erst angefangen. Ich habe Alice getötet. Ich habe sie getötet … Ich muss die Polizei rufen. Ich will nicht fliehen. Es ist alles so sinnlos … Tut mir leid, Minerva.«
    »Hör zu. Hör mir zu, Jason.« Minervas sanfte Stimme klang jetzt eindringlicher. »Bitte leg nicht auf. Du musst mir genau zuhören. Ich weiß das mit Alice, Jason. Es war ein Unfall. Daran ist nichts mehr zu ändern. Es bringt nichts, wenn du dich stellst, das würde sie auch nicht wieder lebendig machen.«
    »Wie kannst du wissen, was passiert ist?«, fragte Jason misstrauisch. »Hast du etwa zugesehen?«
    »Die Kameras an der Decke, schon vergessen? Ich kann sie von meinem Terminal aus fernsteuern. Denk daran, ich habe auch die Drehbücher für Alice geschrieben.«
    »Ich habe sie getötet, Minerva«, stöhnte Jason. »Ich kann nicht einfach abhauen und das will ich auch gar nicht. Es ist mir egal, was jetzt aus mir wird.«
    »Ich weiß, ich weiß, Jason, aber ich brauche dich. Ich weiß ja, dass du jetzt an nichts denken kannst, aber versuch an mich zu denken. Ich bin in Gefahr … Ich bin in Gefahr, Jason. Du musst herkommen. Du bist der Einzige, der mir helfen kann.«
    »Ich?«
    »Ja, Jason.« Minervas Stimme war weicher und trauriger denn je. »Du und sonst niemand. Bitte nimm Alice’ Gleiter. Tu, was ich dir gesagt habe. Bitte. Ohne dich bin ich verloren.«











14
    Hinter den Fensterscheiben des Gleiters zog im Schutz der Nacht die transparente Stadt vorbei, ein Hochhaus nach dem anderen, und fast überall brannten Lichter, die sich auf den glitzernden Fassaden wellenförmig widerspiegelten. Zwei dicke Tränen hingen in Jasons Augen und brachten das Grün und Rot der Ampeln und die Scheinwerfer der anderen Fahrzeuge zum Funkeln. Er kam sich vor, als bewegte er sich zwischen Tausenden ins Dunkel getauchten Gesichtern, die beim Vorbeifahren kurz aufflammten; aber gleichzeitig wusste er, dass sich hinter diesen Lichtern niemand verbarg, jedenfalls niemand, an den er sich wenden konnte. Er war allein. Das war er immer gewesen, nur konnte er sich jetzt nicht mehr vor seiner Einsamkeit verstecken. Nein. Er würde sich nie mehr verstecken können. Der Anblick von Alice, wie sie da auf dem Boden gelegen hatte, das Gesicht unter den wirren Haaren verborgen, ging ihm keine Sekunde lang aus dem Kopf. Wie sehr er dieses undurchschaubare, feindselige Wesen mit den ernsten, ehrlichen Kinderaugen geliebt hatte! Jetzt würden diese Augen niemanden mehr ansehen. Er hatte ihnen jeden Ausdruck genommen, sie stumm und blind gemacht.
    Die Geschwindigkeit des Gleiters zerriss ihm das Herz, rasend schnell ließ er die gläsernen Hochhäuser hinter sich und entfernte sich für immer von ihnen. Vielleicht hatte Alice recht und im Grunde hatte er sie doch nicht so sehr geliebt, wie er gedacht hatte. Er hatte sie gebraucht, um sich lebendig zu fühlen, um sich selbst zu beweisen, dass er auch ein Leben jenseits der künstlichen Jugend hatte, die man für ihn erfunden hatte. Er war auf Alice angewiesen gewesen, um seine Rolle weiterzuspielen, aber im Grunde war auch sie nur Staffage gewesen, so wie die übrigen Figuren, die in seiner Sendung aufgetreten waren. Und deshalb fühlte er sich jetzt, da sie nicht mehr da war, doppelt schuldig. Er hatte sie nicht töten wollen, aber selbst in dieser letzten Szene mit ihr hatte er sich verhalten, als stünde er vor der Kamera. Keine Sekunde lang hatte er versucht, Alice zu verstehen oder herauszufinden, was sie wirklich fühlte. Seit ihrer ersten Begegnung hatte er daran nur ganz selten zu denken gewagt. Erst jetzt, da Alice nichts mehr fühlen konnte, stellte er sich Fragen; Fragen, auf die es nun keine Antwort mehr geben würde.
    Es lief ihm eiskalt über den Rücken, als er merkte, dass er darüber im Grunde erleichtert war. Insgeheim hatte er sich immer davor gefürchtet zu
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