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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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paar Ausnahmen gibt. Mich zum Beispiel. Ich habe mit interaktiven Sendungen angefangen, jawohl, und trotzdem habe ich es weit gebracht. Mittwoch vormittags sind die Zuschauerzahlen astronomisch, praktisch jeden Monat wird etwas aus meiner Kindheit und frühen Jugend wiederholt, ich habe Fanclubs, und bei jeder neuen Auswertung nehme ich Millionen ein. Ich weiß, ich kann mich als privilegiert betrachten, aber das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, da waren meine Einschaltquoten bescheiden und mein wirtschaftlicher Erfolg war lächerlich gering, aber mit Beharrlichkeit und Zuversicht habe ich mich schließlich zu einem sehr gefragten Produkt entwickelt. Und meine Message ist: Du kannst das auch! Jetzt arbeite ich für einen der besten Produzenten weltweit, aber angefangen habe ich mit einer interaktiven Sendung mit miserablen Drehbüchern. Und wenn ich das geschafft habe, warum dann nicht auch du? Denk daran: Im Grunde kommt es nur auf dich an.
    Ich schreibe das hier auf Anregung von Minerva, meinem Coach, die sich vorgenommen hat, in derkommenden Saison an meiner Persönlichkeit neue, überraschende Facetten zu entwickeln. Aber Leute, ihr müsst Geduld haben, sie sagt, das braucht seine Zeit. Wir können uns das leisten, schließlich haben wir das beste Publikum, das man sich vorstellen kann: Es kann warten, ist voller Begeisterung und immer bereit, mich in den aufregenden Phasen meines Lebens zu begleiten. Ich möchte gern wissen, was ihr über diese neue Entwicklung meiner Figur denkt, also zögert nicht, greift zum Telefon! Die ersten zwanzig Anrufer gewinnen eine private Unterhaltung mit mir ohne zeitliche Begrenzung. Vielen Dank.
    Jason schaltete das holografische Interface ab und lächelte in die schwebende Kamera, die die Bewegung seiner Hände auf der virtuellen Tastatur aufgezeichnet hatte, bis er ihr befohlen hatte, die Übertragung zu beenden. Die Kamera gehorchte und schwebte mit einem leisen Surren in die rechte Schublade seines Schreibtischs. Zerstreut strich Jason über das alte Mahagoniholz des Möbels, das bronzene Schreibtischset mit dem Tintenfass und die wertvolle, in echtes Leder gebundene Ausgabe der »Odyssee«, die Minerva ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Darin hatte er kurz vor der Sendung geblättert, um sich zu konzentrieren.
    Ganz klar war ihm die neue Ausrichtung seiner Figur allerdings noch nicht. Jeden Tag zu senden, wie jemand Tagebuch schrieb, das hatte man schon früher gemacht, und es hatte nie zu den spektakulären Ergebnissen geführt, die Minerva zu erwarten schien. Er erinnerte sich an den Fall einer Jugendlichen aus einem Vorort, die jeden Tag über ihre Freundinnen aus der Tanzschule geschrieben hatte, und zwar ein bisschen ordinär, was anfangs durchaus Interesse weckte. Aber schon bald wurde es langweilig, und die Einschaltquoten des Mädchens gingen so stark zurück, dass mehrere Kanäle ihr Leben nicht länger ausstrahlten. Er selbst war natürlich kein Teenie, der nichts zu sagen hatte. Auf Wunsch seines Produzenten war er vier Jahre durch die transparente Welt gereist und hatte, immer unter dem aufmerksamen Blick eines Millionenpublikums, die schönsten Orte dieser seiner Welt besucht. Und nicht nur das: Er hatte Geige gelernt und tote Sprachen, Naturwissenschaften und Geschichte studiert. Er las fast wie ein Profi, ohne die Lippen zu bewegen. Und was noch wichtiger war: Minerva vertraute ihm und griff immer öfter seine Vorschläge auf. Die Idee, den Pilotenschein für einen Renngleiter zu machen, war zum Beispiel von ihm selbst gekommen. Und das Publikum war begeistert gewesen! Schade, dass es nicht immer so aufgeschlossen war.
    »Den Terminkalender bitte«, sagte er, während er zum Fenster ging.
    In dieser Jahreszeit sahen die Bäume prachtvoll aus. Die Rot- und Gelbtöne der Blätter standen in reizvollem Kontrast zum tristen, bedrückenden Schiefergrau des Himmels. Im Hochhaus gegenüber wurden gerade verschiedene Familienszenen gedreht. Mehrere Minuten lang verfolgte Jason, wie ein Vater im 34. Stock des Gebäudes, ungefähr auf der Höhe seines Fensters, wild gestikulierend mit seiner Tochter schimpfte. Er kannte die Serie, dieses Mädchen hatte er schon mehr als einmal live gesehen. Sie konnte hervorragend weinen, so verzweifelt, dass man richtig gerührt war. Wenige Figuren waren so glaubwürdig wie sie, wenn es darum ging, Angst auszustrahlen, dabei war sie höchstens zehn Jahre alt. Er würde Minerva empfehlen, sie unter Vertrag zu nehmen, die Kleine
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