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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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hatte wirklich Potenzial. Vielleicht konnten sie ein paar Folgen zusammen drehen.
    Jetzt zeichnete sich auf der Fensterscheibe das Bild von Clarissa ab, sie bewegte die Lippen. Das Treffen mit ihr war für später auf halb sechs angesetzt und Minerva hatte entschieden, es nicht live zu senden. Man würde die Liebesszenen nachträglich aus den besten Stellen zusammenschneiden. Das war viel besser und würde ihm peinliche Gefühle ersparen. Das Publikum würde nur die attraktivsten Einstellungen sehen und das würde seine Figur stärker machen.
    Schade, dass Clarissa zu seiner neuen Freundin gewählt worden war und nicht Alice. Er fand Alice viel attraktiver, mit diesen süßen Grübchen und ihrem Koboldlächeln, aber er hatte gleich gewusst, dass sie nicht mit Clarissas Bombenfigur würde mithalten können. Na ja, für die Sendung war es eigentlich fast besser … Er würde sich darauf konzentrieren, dem Publikum zu geben, was es wollte, ohne dass ihm dabei seine Gefühle in die Quere kamen. Er würde seine bildschöne Freundin vor dreieinhalb Millionen Zuschauern streicheln, die beste Kameraeinstellung suchen, um sie in die Arme zu schließen und ihr ganz langsam das Kleid aufzuknöpfen. Die Leute würden ihnen zu Füßen liegen und Clarissa würde sich über den Karriereschub freuen. Sogar Minerva würde zufrieden sein. »Du musst dein gutes Aussehen besser einsetzen«, sagte sie immer, »vergiss nicht, das ist mit dein größter Pluspunkt. Da, wo du jetzt stehst, Jason, bist du nicht nur hingekommen, weil du dich entwickelst und dazulernst, sondern weil man dich gern ansieht. Wenn du das jemals vergisst, bist du erledigt.«
    In dem Hologramm, das sein Handy auf die Scheibe projizierte, sah Clarissa nicht gerade begeistert aus.
    »Gibt’s was Neues?«, fragte Jason.
    Wenn sie Liebesszenen drehen sollten, führte er mit seiner neuen Freundin eigentlich nicht gern Privatgespräche. Clarissa nahm ihre Rolle viel zu ernst und darunter litt seine Konzentration. Manchmal hatte er das Gefühl, sie würde alles, was sie zu ihm sagte, wirklich so empfinden, und mehr als einmal hatte er sie dabei ertappt, wie sie vom Drehbuch abwich. Diese Tendenz zum Improvisieren war kein gutes Omen für ihre Zukunft in den Medien, aber das schien Clarissa nicht zu merken. Wenn sie zusammen waren, spürte Jason, wie sie die Kameras vergaß und nur noch an ihn dachte. Diese Hingabe schmeichelte ihm natürlich, aber er vermisste die kalkulierte Professionalität von Alice, die niemals vergaß, dass sie eine Rolle spielte, nicht einmal in den intimsten Momenten. Mit Herzklopfen erinnerte er sich an das letzte Mal, als er sie in den Armen gehalten hatte, wie ihr Körper sich ihm scheinbar hingegeben hatte, ihr Blick dabei aber seltsam gleichgültig gewesen war. Er hatte sogar überlegt, ob Alice ihn insgeheim hasste …
    Solche Zweifel würde er bei Clarissa nie haben.
    Die langen, hellen Wimpern der jungen Frau flatterten und eine Träne lief über ihre rechte Wange. Sie öffnete die Lippen, als wollte sie etwas sagen, aber es war nichts zu hören.
    »Gibt’s ein Problem?«, fragte Jason alarmiert.
    »Sie haben umdisponiert.« Clarissas Stimme klang rau und unsicher. »Die heutige Szene wird nicht gedreht.«
    Jason zog die Augenbrauen hoch. »Warum denn nicht? Das Publikum wartet darauf, wann drehen wir sie denn dann?«
    »Weiß ich nicht. Es gibt keinen neuen Termin. Das hat jedenfalls mein Agent gesagt.«
    Jason schluckte. Er konnte kurzfristige Änderungen nicht ausstehen.
    »Das muss ein Versehen sein. Unsere Einschaltquote ist so hoch wie nie, es ergibt keinen Sinn, eine Sendung zu canceln …«
    Clarissa zuckte mit den Schultern. Sie wirkte müde und niedergeschlagen und vermied es, Jasons Hologramm anzusehen.
    »Frag deinen Agenten«, sagte sie. »Also, ich denke, wir sehen uns bald … Mach’s gut, mein Schatz.«
    Clarissas rote, sinnliche Lippen schwebten noch einen Moment lang im leeren Raum, bevor ihr Hologramm sich vollends verflüchtigte. Jason schlug mit der geballten Faust gegen die Scheibe, wandte sich dann aber sofort der schwebenden Kamera zu, die ihn von der Decke aus filmte, und verwandelte seine enttäuschte Miene in ein verführerisches Lächeln, so, wie Minerva es ihm beigebracht hatte. Eine Berühmtheit wie er konnte es sich nicht erlauben, auch nur für einen Moment die Fassung zu verlieren. Früher oder später konnten die in der Privatsphäre seines Wohnzimmers aufgezeichneten Bilder an die Öffentlichkeit
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