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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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Zum Beispiel wohnten sie angeblich in Häusern inmitten üppiger Gärten, die mit Fallen für die Kameras der Spitzel gespickt waren. Sie wurden von niemandem gefilmt. Ihr Leben verlief in absoluter Isolation, ohne jeden Kontakt zu den Menschen in der Stadt; wobei Jason annahm, dass sie sich untereinander trafen. Diese Begegnungen, wenn sie denn wirklich stattfanden, mussten sehr merkwürdig sein, wenn man bedachte, dass niemand dabei Regie führte. Oder besser gesagt, sie führten selbst Regie … Denn die Drehbuchautoren schrieben auch ihr eigenes Leben. Das wurde zumindest allgemein angenommen. Es gab aber auch andere Theorien. Paul hatte ihm zum Beispiel einmal verraten, dass er überzeugt war, Minerva schreibe keine Drehbücher für sich selbst; die beste Drehbuchautorin des Planeten lebe im Hier und Jetzt, ohne sich darum zu kümmern, was am nächsten Tag passieren werde. So wie früher … Vielleicht konnte sie es sich leisten. Durch all die Erfahrung, die sie beim Erfinden von Lösungen für das Leben der anderen hatte, war sie vielleicht in der Lage, in jedem Moment zu entscheiden, wie sie sich verhalten sollte, ohne Fehler zu machen. Und selbst wenn sie welche machte – niemand außer ihr würde davon erfahren. Sie war allein, kein Pulk von Kameras schwirrte um sie herum und filmte jede Sekunde ihres Lebens. Diese Einsamkeit musste beängstigend sein, aber auch aufregend. Nur zu gern hätte Jason einmal einen heimlichen Blick in diese unvorstellbare Privatsphäre in Minervas Zuhause geworfen, und sei es nur für ein paar Minuten. Er wollte sie ohne die virtuelle Maske sehen, mit ihrem wahren Gesicht, wie sie die einfachen Dinge tat, die jeder Mensch tut: essen, schlafen, spazieren gehen, Musik hören …
    Einmal hatte Jason sie gesehen. Ein paar Sekunden lang war ihr nacktes Gesicht in die Luft seines Wohnzimmers projiziert worden, bevor sie merkte, dass sie vergessen hatte, ihre Maske vorzuschalten. Seither verfolgte ihn die Erinnerung daran und kam ihm vor wie eine dieser magischen Visionen, die man nur einmal im Leben hat. Sie war ungefähr so alt wie er, mit langen, kupferroten Haaren und Augenbrauen und Wimpern in derselben Farbe. Sie hatte eine Art Tunika getragen, die in allen Farben geleuchtet hatte und mit Ranken aus Goldfäden bestickt gewesen war. Ihre Haut war ganz hell und zart und ihre Augen waren blaugrün. Er würde sie nie vergessen …
    Doch er versuchte so wenig wie möglich an diese menschliche und verletzliche Minerva zu denken, die er einen kurzen Moment hatte ansehen können. Er rief sich lieber die Maske der griechischen Göttin in Erinnerung, die ohne Makel, aber auch ausdruckslos war. Das war für ihn die wahre Minerva: eine unzerstörbare Marmorstatue, eine kalte Erscheinung, die aus der Ferne über ihn wachte und ihm Sicherheit vermittelte. Er brauchte sie, mehr als er jemals seine Mutter gebraucht hatte. Er verehrte sie, er hatte große Achtung vor ihr, und vor allem war er ihr dankbar.
    Irgendwo in der Ferne meinte er die magischen Arpeggios der Arabesque No. 1 von Debussy zu hören. Sofort drehte er das Wasser ab und öffnete die Glastür der Kabine einen Spalt. Ja, sein Telefon war dabei, eine Datei herunterzuladen. Und das Stück von Debussy bedeutete, dass Minerva der Absender war.
    Rasch schlüpfte er in seinen schwarzen Bademantel und lief barfuß in die Küche. Tinkerbell flatterte wie ein seltsamer Riesenkolibri vor dem holografischen Interface des Telefons auf der Stelle. Jason lächelte, als er sie sah. Er wusste, dass sie nicht für Drehbücher programmiert war und daher mit dem, was sie da sah, nichts anfangen konnte. Ebendeshalb wirkte ihre Neugier noch rührender.
    Mit einem sanften Schubs, der sie jedoch ans andere Ende des Raums beförderte, schaffte er sich Platz und stellte sich vor das blinkende Gerät.
    »Minerva?«, fragte er lächelnd. »Ein Glück, ich habe mir schon Sorgen gemacht …«
    Keine Reaktion. Die Panels des Storyboards wurden eins nach dem anderen auf sein Handy heruntergeladen und erschienen am Ende des Vorgangs jeweils kurz als farbiges Hologramm. Minervas starre, wohlwollende Maske hingegen tauchte kein einziges Mal auf. Es war, als würden die Dateien automatisch versendet.
    »Minerva, bitte«, sagte Jason noch einmal und gab auf der holografischen Tastatur die zwei Ziffern von Minervas Code ein. »Ich muss mit dir reden, diese ganzen Änderungen machen mich nervös …«
    Nichts – nur Schweigen. Ganz offensichtlich befand Minerva sich
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