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Verbotene Früchte im Frühling

Titel: Verbotene Früchte im Frühling
Autoren: Lisa Kleypas
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automatisch, während ihr Herz so heftig zu schlagen begann wie ein eingesperrtes Tier, das an seinem Käfig rüttelt. „Er kann schwimmen. Vermutlich wurde er irgendwo flussabwärts ans Ufer gespült. Jemand muss nach ihm suchen …“
    „Sie suchen überall nach ihm“, sagte Lillian. „Westcliff hat einen ganzen Trupp organisiert. Er hat den größten Teil der Nacht selbst mit der Suche verbracht und ist vor Kurzem zurückgekehrt. Die Kutsche zerbrach in tausend Teile, als sie von der Strömung mitgerissen wurde. Keine Spur von Matthew. Aber, Daisy, einer der Konstabier hat Westcliff gegenüber zugegeben …“ Sie verstummte, und in ihren braunen Augen glitzerten Tränen des Zorns, „… zugegeben …“, fuhr sie mühsam fort, „… dass Matthews Hände gefesselt waren.“
    Daisy zog unter der Bettdecke die Knie hoch. Sie wollte so wenig Raum wie möglich einnehmen, wollte, so gut es ging, vor dieser neuen Enthüllung zurückweichen.
    „Aber warum?“, flüsterte sie. „Dafür gab es keinen Grund.“
    Lillians Lippen bebten, während sie versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. „In Anbetracht von Matthews Geschichte meinten sie, es bestehe das Risiko, dass er flieht. Aber ich denke, Waring hätte in jedem Fall schon aus Prinzip darauf bestanden.“
    Daisys Herz schlug so schnell, dass ihr schwindelig wurde. Sie hatte Angst, und fühlte sich doch gleichzeitig seltsam distanziert. Ganz kurz sah sie ein Bild von Matthew vor sich, wie er in dem dunklen Wasser lag und kämpfte, die Arme gefesselt, und heftig mit den Füßen um sich trat …
    „Nein“, sagte sie und presste die Handflächen an ihre schmerzenden Schläfen. Es fühlte sich an, als würden ihr Nägel in den Kopf getrieben. Sie vermochte nicht einmal, richtig zu atmen. „Er hatte keine Chance, oder?“
    Lillian schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Von ihrem Gesicht fielen Tropfen auf den Boden.
    Wie seltsam, dachte Daisy, dass ich gar nicht weine. Sie fühlte den Druck hinter ihren Augen, und ihr Kopf schmerzte. Aber es war, als warteten die Tränen auf einen Gedanken, der sie dazu veranlasste, frei strömen zu können.
    Noch immer hielt Daisy sich die pochenden Schläfen und konnte vor Schmerzen kaum noch etwas sehen. „Weinst du um Matthew?“
    „Ja.“ Lillian zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und schnäuzte sich hörbar. „Aber vor allem weine ich um dich.“
    Sie beugte sich vor und schloss Daisy in die Arme, als könnte sie sie so vor allem Unglück beschützen. „Ich habe dich lieb, Daisy.“
    „Ich dich auch“, antwortete Daisy mit erstickter Stimme, verletzt, ohne Tränen, und rang nach Atem.
    Die Suche wurde noch weiterhin fortgesetzt, während des ganzen nächsten Tages und der folgenden Nacht, und alle sonst üblichen Rituale, die Zeiten zum Schlafen, Arbeiten und Essen, hatten ihre Bedeutung verloren. Nur ein einziges drang durch die dumpfe Betäubung, die Daisy von allen Seiten umgab, nämlich Westcliffs Weigerung, sie an der Suche teilhaben zu lassen.
    „Du würdest keinem von uns eine wirkliche Hilfe sein“, hatte er gesagt, zu müde und erschöpft, um so viel Taktgefühl aufzubringen, wie es sonst seine Art war. „Die Lage da draußen ist gefährlich und sehr schwierig, weil das Wasser so hoch steht. Im besten Fall würdest du uns ablenken. Im schlimmsten Fall würdest du dich verletzen.“
    Daisy wusste, dass er recht hatte, trotzdem fühlte sie, wie eine Woge heftigen Zorns in ihr aufstieg. Dieses Gefühl war so gewaltig, dass es sie erschreckte und drohte, ihre Selbstbeherrschung zu zerstören, sodass sie sich wieder in sich zurückzog, ehe sie endgültig die Fassung verlieren konnte.
    Vielleicht würde man Matthews Leichnam niemals finden. Dieser Gedanke war zu schrecklich, um ihn ertragen zu können. Unmöglich könnte sie sich an diese Vorstellung gewöhnen. Aus irgendeinem Grund war so ein Verschwinden schlimmer als der Tod – es war, als hätte jemand nie existiert, als hätte sie nichts, um das sie trauern konnte. Früher hatte sie nie verstanden, warum manche Menschen den Leichnam eines geliebten Menschen unbedingt sehen wollten. Jetzt verstand sie es. Es war die einzige Möglichkeit, diesem Albtraum ein Ende zu setzen und vielleicht in Tränen und Trauer Erleichterung zu finden.
    „Ich bin noch immer der Meinung, ich würde es wissen, wenn er tot ist“, sagte sie zu Lillian, als sie auf dem Boden vor dem Kamin im Salon saßen. Sie trug einen alten Schal, der vom vielen Tragen weich
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