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Verbotene Früchte im Frühling

Titel: Verbotene Früchte im Frühling
Autoren: Lisa Kleypas
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geworden war und ihr eine tröstliche Umhüllung bot. Trotz der Hitze des Feuers, ihrer warmen Kleidung und der Tasse mit Tee und Brandy in ihrer Hand wurde Daisy das Gefühl von Kälte nicht los. „Ich sollte es fühlen. Aber ich fühle überhaupt nichts, es ist so, als wäre ich bei lebendigem Leibe erstarrt. Ich will mich irgendwo verkriechen. Ich will das nicht ertragen müssen. Ich will nicht stark sein müssen.“
    „Das musst du auch nicht“, erwiderte Lillian ruhig.
    „Doch, ich muss. Denn die andere Möglichkeit wäre, dass ich in eine Million Stücke zerbreche.“
    „Ich werde dich zusammenhalten. Jedes einzelne Stück.“
    Ein hauchdünnes Lächeln erschien auf Daisys Lippen, als sie in das besorgte Gesicht ihrer Schwester blickte.
    „Lillian“, flüsterte sie, „was würde ich nur ohne dich tun?“
    „Das wirst du niemals herausfinden müssen.“
    Nur auf Drängen ihrer Mutter und ihrer Schwester hin aß Daisy beim Mittagsmahl ein paar Bissen. Sie trank ein ganzes Glas Wein aus und hoffte, es würde sie von dem endlosen Gedankenkreisen in ihrem Kopf ablenken.
    „Westcliff und Vater sollten bald zurück sein“, sagte Lillian angespannt. „Sie haben sich nicht ausruhen können und vermutlich auch nichts gegessen.“
    „Lasst uns in den Salon gehen“, schlug Mercedes vor. „Wir können uns mit Kartenspielen ablenken, oder vielleicht kannst du uns aus einem von Daisys Lieblingsbüchern vorlesen.“
    Daisy warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Es tut mir leid, ich kann nicht. Wenn es euch nichts ausmacht, wäre ich lieber oben allein.“
    Nachdem sie sich gewaschen und sich das Nachthemd angezogen hatte, warf Daisy einen Blick auf ihr Bett.
    Obwohl sie sich ein wenig beschwipst und erschöpft fühlte, verspürte sie keinen Wunsch zu schlafen.
    Im Haus war es still, als sie zum Salon hinüberging. Sie lief über einzelne Schatten hinweg, die ein Muster aus Ranken auf den Teppichen bildeten. Eine einzelne Lampe tauchte den Salon in einen goldenen Schein, und ihr Licht fing sich auch in den geschliffenen Kristallen, die von dem Lüster herabhingen und weiße Flecken auf die mit einem Blumenmuster tapezierten Wände malten. Vor der Polsterbank hatte jemand einen Stapel mit Lesestoff der verschiedensten Art liegen lassen: Zeitschriften, Romane, ein dünner Band heiterer Gedichte, die sie Matthew vorgelesen und dabei nach dem flüchtigen Lächeln auf seinem Gesicht gesucht hatte.
    Wie hatte sich alles so schnell verändern können? Wie konnte das Leben jemanden einfach so mit sich nehmen und auf einen anderen und gänzlich unerwünschten Weg schicken?
    Daisy setzte sich neben den Stapel auf den Teppich und begann, ihn langsam zu sortieren – ein Stapel, der in die Bibliothek gebracht werden sollte, einer, der am Besuchstag ins Dorf mitgenommen werden konnte. Aber vielleicht war es keine gute Idee, so etwas nach dem Genuss von so viel Wein zu versuchen. Statt zwei ordentliche Stapel zu bilden, landete der Lesestoff neben ihr, genauso ungeordnet wie die vielen zerbrochenen Träume.
    Daisy legte die Füße übereinander und lehnte sich an die Polsterbank, den Kopf an der weichen Kante. Mit den Fingern berührte sie den Stoff, in den eines der Bücher eingebunden war. Mit halb geschlossenen Augen betrachtete sie es. Ein Buch hatte für sie immer die Tür zu einer anderen Welt bedeutet – einer Welt, die weitaus interessanter und fantastischer war als die wirkliche. Doch jetzt hatte sie entdeckt, dass das Leben viel wunderbarer sein konnte als jede Fantasie.
    Und dass die Liebe auch in die wirkliche Welt Magie bringen konnte.
    Matthew war alles, was sie immer gesucht hatte. Und sie hatte nur so wenig Zeit mit ihm verbringen dürfen.
    Die Kaminuhr tickte mit fast unerträglicher Langsamkeit. Als Daisy schläfrig den Kopf weiter zurücklegte, hörte sie die Tür knarren. Müde richtete sie den Blick in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
    Jemand hatte das Zimmer betreten.
    An der Tür blieb er stehen und betrachtete sie, wie sie auf dem Boden saß, umgeben von all den verstreuten Büchern und Zeitschriften.
    Daisy richtete den Blick auf sein Gesicht, und dann erstarrte sie vor Sehnsucht, Furcht und Verlangen.
    Es war Matthew. Er trug fremde, grobe Kleidung, und seine Gegenwart schien so lebendig, dass sie das Zimmer ganz erfüllte.
    Ihre Furcht, die Erscheinung könnte verschwinden, war so groß, dass Daisy völlig reglos dasaß. Ihre Augen brannten und tränten, doch sie blinzelte
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