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Venice Beach

Venice Beach

Titel: Venice Beach
Autoren: P Besson
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die Titelbilder der Illustrierten erinnert. So weit war ich mit meinen Beobachtungen gekommen, als Jack Bell vor mir erschien. Ich bin zusammengezuckt, aber ich glaube, man hat es nicht gesehen. Ich fand, er hatte weniger Ausstrahlung als auf den Fotos.
     
    Er war ungekämmt, wie jemand, der gerade aus dem Bett kommt, hatte verquollene Augen und war nicht rasiert, aber ich traute ihm nicht und dachte, er habe vielleicht Stunden vor dem Spiegel zugebracht, um sich dieses nachlässige Aussehen zu geben. Er drückte mir mit einer kleinen Verbeugung die Hand und stellte sich vor, was mich für ihn eingenommen hat. Er hatte es nicht nötig. Er brauchte sich nicht vorzustellen.
     
    Er bat mich, mich zu setzen, und ließ sich selbst auf dem Sofa mir gegenüber nieder. Er trug eine Jeans, die an den Knien zerrissen war. Ich weiß nicht, warum, aber einige Minuten lang zogen seine Knie meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Der Mann wirkte weniger jung, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er war nicht mehr der Halbwüchsige, den ich in Erinnerung hatte. Der Altersunterschied zwischen uns war gar nicht so groß. Sechs Jahre.
     
    Er griff nach einer Schachtel Zigaretten, die auf dem Tisch lag, der zwischen uns stand, und hielt sie mir hin. Ich habe sein Angebot abgelehnt und für alle Fälle gesagt, dass mich der Rauch nicht störe, aber er hat die Schachtel zurückgelegt, ohne sich eine herauszunehmen. Ich habe ihm ins Gesicht geblickt und ihm mit ziemlich ruhiger Stimme mitgeteilt: »Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Billy Greenfield zu sprechen.«

 
    Im ersten Augenblick unserer Begegnung, ich meine, als er so vor mir stand, am Morgen der Welt, mit seiner verblüffenden und verschlafenen Schönheit, mit dieser Aura des Überlebenden, ist kein Funke übergesprungen, ich schwöre es. Ich kann mir vorstellen, dass es verführerisch ist, sich vorzustellen, alles habe sich im Bruchteil einer Sekunde abgespielt, alles sei beim ersten Blick oder Händedruck umgeschlagen, aber so war es nicht.
     
    Natürlich beginnt alles genau in diesem Moment, der Prozess, den wir nicht aufhalten werden, kommt in Gang, aber bedenken Sie, dass wir uns in Unkenntnis dieses Mechanismus begegnen, in völliger Unschuld; arglos. Wir wissen nicht, dass wir im Begriff sind, die Hand in das Räderwerk zu stecken, das uns zermalmen wird. Es ist zu einfach, die Geschichte im Nachhinein wiederzugeben. Ich halte mich an die Wahrheit, sie kann nicht überboten werden.
     
    Und überhaupt, wie hätten wir es denn ahnen sollen? Diese Sache reichte zu weit zurück, zu weit für uns. Wenn man uns gesagt hätte, was geschehen würde, hätten wir es natürlich nicht geglaubt. Wir hätten gelacht, oder wir wären wütend geworden, aber wir hätten es auf keinen Fall für möglich gehalten. Das ging über unsere Vorstellungskraft. Das fand keinen Platz in unseren Plänen, in unserenGewissheiten. Es lag jenseits der Vernunft, jenseits des Begriffsvermögens.
     
    Ich habe den Vorwurf zu hören bekommen: Ich hätte mich geweigert, es einzugestehen, ich hätte es geleugnet. Ich nehme das gern auf mich. Diesen Vorwurf kann man mir wahrscheinlich machen. Aber an diesem 17.   Juni 1990 ging es nicht darum. Man leugnet nichts, was man nicht kennt. Punktum.
     
    In Wirklichkeit hat Jack es als Erster begriffen. Weil er einen Vorsprung hatte. Sein bisheriges Leben hatte ihn besser vorbereitet als mich. Er kannte die Erregung, die Fragen, die Sekunden der Wahrheit, die Trennungen, die Brüche, die Erschütterungen, all das, was weiß ich. Mein Leben war geradlinig verlaufen und folgte seinem Rhythmus, ohne Hast. Ich habe eine Entschuldigung.
     
    Dieses Wort
Entschuldigung
wird missverstanden werden. Es ist mir egal. Heute ist es mir egal. Ich habe nicht diesen ganzen Weg zurückgelegt, allen meinen Glaubenssätzen abgeschworen, allen diesen Stürmen die Stirn geboten, um von Schuldgefühlen zernagt zu werden.
    Letztlich muss ich Ihnen sagen: Ich erinnere mich nicht mehr so genau an diese erste Begegnung. Sicher, ich bin in der Lage, mir die Szene zu rekonstruieren. Das ist auch mein Metier, eine Berufskrankheit, wenn Sie so wollen. Ich erinnere mich in etwa an meinen Geisteszustand. Aber ich habe keine Erinnerung an eine besondere Erregung oder ein Missbehagen oder ein Schwindelgefühl. Das beweist, dass ich Fortschritte mache.
    Das Schwindelgefühl kam später.

 
    Ich beruhigte ihn: »Es handelt sich um einen Routinebesuch anlässlich eines Mordes, der gerade begangen
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